Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
wie sie es ihm beibringen sollte und mit welchen Worten. Du bist ganz schön feige, warf sie sich vor, fasste den Entschluss, Burkhart anzurufen, später, und erst mal ihren Freund, den EDV-Techniker, aufzusuchen.
Raif war allein. Er schloss hinter der Reporterin die Tür und ging voraus nach oben. Während sie die Filmkassetten abspielte und die Bilder erzählen ließ, rauchte der Computerfachmann schweigend, bis sie die Off-Taste drückte.
„Vielen Dank noch für die Reservekamera. Wie man sieht, ist sie genauso gut wie meine alte“, sagte Anica und wies auf den Monitor. „Was steckt dahinter, Raif?“
„Propaganda, Psychoterror, was weiß ich“, antwortete er. „Aber offenbar nur eine erste Aktion. Ich darf mir doch eine Kopie von dem Blutbad ziehen, ja?“
„Sicher...“, stimmte Anica stockend zu. „Aber... sie können doch nicht die Bevölkerung eines ganzen Dorfes massakrieren, nur um eine Zeitungsente zu produzieren.“
„Du siehst, dass sie es tun. Erinnere dich doch nur an deine eigenen Aufnahmen vom vorletzten Jahr.“
„Was meinst du?“
„Die Explosion in einer nach Brot anstehenden Menschenschlange hier in Sarajevo. Sechzehn Tote – etliche Verletzte. Angeblich Opfer serbischen Granatfeuers. Aber ist dir denn damals gar nichts aufgefallen?“
„Nein. Was denn?“
„Hast du auf deinen Bildern Einschläge im Asphalt entdecken können?“
„Nein. Da waren keine.“
„Hätten aber da sein müssen. Typische Merkmale für Treffer von Werfergranaten. Dagegen waren sämtliche Opfer an der unteren Körperhälfte getroffen und Granatenteile nicht aufzufinden. Überhaupt hat niemand an diesem Tag einen Granatenabschuss gehört. Außerdem war vor dem Zwischenfall von den bosnischen Behörden die Straße gesperrt worden.“
„War mir nicht bekannt.“
„Vieles erfährt man erst hinterher. Hast du deiner Erinnerung nach damals ganz allein Aufnahmen gemacht?“
„Ganz und gar nicht. Ich weiß noch genau, dass mir ausgerechnet ein bosnisches Fernsehteam zuvorgekommen ist.“
„Seit wann die rechtzeitig zur Stelle sind, musste man sich schon damals fragen. Es gibt also genug Hinweise darauf, dass die bosnischen Milizen einen provokanten Terrorakt inszeniert haben.“
Anica zupfte an ihrem rechten Ohrläppchen. „Dieser von der UNO sogenannte Aggressionsakt wurde den Serben zugeschrieben und führte zu der Embargoentscheidung, die seither das Leben in Serbien bestimmt.“
„Wenn dir das Wohlergehen der Serben so zu Herzen geht, warum protestierst du dann nicht?“
„Ich bin doch keine Selbstmörderin, Raif. Ich würde noch nicht einmal Partisanin sein wollen, glaube ich, selbst wenn ich wüsste, auf welcher Seite gerecht gekämpft wird.“
„In diesem Krieg gibt es keine Partisanen, Anica, genauso wenig wie Gerechtigkeit. Ich meine nicht die Methode des Guerillakampfes, sondern dass es keine Bewegung gibt, die einen anderen Geist vertritt, eine Idee des toleranten Zusammenlebens.“
„Ich sehe unter den kriegführenden Parteien auch niemanden, der eine Alternative zu bieten, eine gesellschaftliche Vision hätte.“
„Sie haben alle auf die nationalistische Energie gesetzt, auf Differenz und Divergenz.“
„Auch die Muslime hier in Bosnien?“
„Ja, auch sie. Von Anfang an. Sie haben alle ihre Verbündeten unter den äußeren Mächten gesucht, lassen sich ausspielen und spielen aus. Sieh dir deine Bilder an, Anica. Die meisten Menschen wirken völlig gesichtslos, ohne eigene Identitäten.“
„Gibt es niemanden, der einen fortschrittlichen Gedanken vertritt?“
„Keinen einzigen. Dem man ein uneingeschränktes Ja geben könnte.“ Raif zündete sich an der zu Ende gerauchten Zigarette eine neue an, drückte den Stummel im Aschbecher aus.
„Was tun?“ hustete Anica, mit der Hand den Rauch wegfächernd.
„Man kann nur Partei gegen den Nationalismus ergreifen. Für alles, was unser Leben ausmacht, braucht man Überwindung, Überbrückung. Unsere Hoffnung befindet sich stets auf der anderen Seite, beim Nachbar, beim Partner.“
„Ist ein solches Parteiprogramm nicht utopisch?“
„Sie bräuchten es nur abzuschreiben aus ihren heiligen Büchern. Es steht alles geschrieben in Bibel und Koran. Dann müssten sie es aber immer noch mit Leben erfüllen.“
„Ist der Video-Printer betriebsbereit?“ fragte Anica und fuhr fort, als er nickte: „Dann mache ich ein paar Abzüge. Eine Kriegsgefangene ist dabei, von der anderen Seite des großen Teiches. Ich wäre dir
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