Afrika Quer (German Edition)
Warum bekam der 19-jährige in Kano dann das doppelte?
„In der Zeit Mohammeds wurden Trinker nur mit vierzig Hieben bestraft“, sagte mir der Richter in Gyadi Gyadi nach der Verhandlung. „Aber in der Zeit von Omar, dem zweiten Kalifen, verbreitete sich das Trinken unter den Gläubigen rasant. Deshalb hat der Kalif die Strafe verdoppelt.“ Außerdem liege es im Ermessen des Richters, die Anzahl der Hiebe festzulegen.
Der 19-jährige hatte der Urteilsbegründung still und mit gesenktem Kopf zugehört. Als er nun jedoch noch ein letztes Wort sagen durfte, fing er an, zu klagen und zu wimmern: „Bei Gott! Ich schwöre bei Gott, dass ich unschuldig bin. Ich habe noch nie getrunken. Bei Gott! In meinem ganzen Leben.“
„Er bettelt das Gericht um Gnade an“, sagte der Übersetzer.
Aber der Richter blieb hart: „Du hast dein Vergehen schon zugegeben. Jetzt behauptest du auf einmal, du hättest nichts getan. Außerdem hast du das Recht Berufung einzulegen.“
Ausgepeitscht wurde der 19-jährige allerdings schon heute, darauf hätte auch die Berufung keinen Einfluss gehabt. Ohnehin legte er keine ein. Dann brachte ihn der Hisba-Chef mit dem Ziegenbärtchen weg.
Danach wurden eine Gruppe von sieben Angeklagten zwischen zweiundzwanzig und vierzig Jahren vorgeführt. Sie waren vor zwei Wochen bei einer Razzia in einer Spelunke in einem Dorf, 100 km östlich von Kano, festgenommen worden. Die anderen Gäste konnten sich in Sicherheit bringen, nur sie konnten nicht schnell genug wegrennen. In der Spelunke fand die Polizei Hirse-Bier, Marihuana und Lösemittel in kleinen Döschen zum Schnüffeln.
Der Richter verurteilte die sieben mit derselben Begründung wie den 19-jährigen zu achtzig Peitschenhieben. Auch sie hatten gestanden, auch sie legten keine Berufung ein. Aber sie nahmen das Urteil wortlos, und wie mir schien, fast erleichtert hin.
„ Ich glaube, sie sind ganz froh, dass sie es bald hinter sich haben“, meinte der Übersetzer, „und dass sie nicht mehr zurück ins Gefängnis müssen.“
Der Verhandlungstag war zu Ende. Als ich in das Büro des Richters in den Raum hinter seinem Pult kam, knieten schon wieder ein Mann und eine Frau vor ihm. Es ging wieder um eine Erbschaft. Sie hatten angeblich ihren Anteil nicht bekommen, und nun schilderten sie ihm ihren Fall und fragten ihn, ob er ihnen nicht helfen konnte.
Das Büro des Richters war wie das gesamte Gerichtsgebäude frisch renoviert. Im Vergleich zum Verhandlungssaal wirkte es allerdings luxuriös. Auf dem Boden lag ein nagelneuer, knallroter Teppich, und der Richter saß barfuß und mit untergeschlagenen Beinen auf einem Sofa in derselben Farbe. Außerdem stand in dem Büro ein massiver Schreibtisch und dahinter ein Regal, in dem sich zwei dicke, in Leder gebundene Folianten verloren.
Als mich der Richter sah, rief er ein freudiges „Bature!“ (Hausa = Weißer) aus und patschte mit der Hand zum Zeichen, dass ich mich setzen soll, neben sich aufs Sofa. Er fertigte die Bittsteller ab und konnte sich nun ganz mir widmen.
Gestern hatte er darauf bestanden, dass ich nach dem Verhandlungstag noch einmal zu ihm ins Büro komme, weil westliche Journalisten oft Verständnisschwierigkeiten mit der islamischen Rechtsprechung haben. Das war ganz in meinem Interesse, denn ich ging davon aus, dass ich tatsächlich Fragen haben würde. Aber natürlich war mir auch klar, dass er mich damit schikanieren wollte.
Davon war jetzt jedoch nichts mehr zu spüren. Er plauderte gelöst mit mir wie mit einem alten Bekannten. Ich hatte den ganzen Tag zu seinen Füßen gesessen und jedes seiner Worte notiert - wohl daher seine gute Laune.
Der Richter hatte einen erfolgreichen Tag hinter sich, einen Tag, wie er sie mochte. Er hatte Recht gesprochen und zwar ohne die Sophismen des aufgeklärten westlichen Rechtssystems, das mit seiner Betonung der Verfahrensordnung es den Verbrechern viel zu einfach machte.
Jetzt erzählte er gutgelaunt, dass er Ende der siebziger Jahre Arabisch und Islamwissenschaften in Kano studiert hat. Seine einzige formelle juristische Ausbildung war ein sechsmonatiger Kurs in bürgerlichem Recht. Trotzdem hatte er zwei Jahrzehnte lang an einem Gericht der Stadt präsidiert, das wie das jetzige Kriminal- und Zivilfälle verhandelte.
Zivilverfahren, Erbschaften und Scheidungen wurden im Norden Nigerias, wie in vielen afrikanischen Ländern mit großer muslimischen Bevölkerung, ohnehin schon lange nach der Scharia entschieden.
Jetzt wollte ich
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