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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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notwendige Schwere und verwandelt sich in Leere. Organe, Gefühle, Muskeln und Gedächtnis, die sie bisher zu dem gemacht haben, was sie ist, werden von unsichtbarer Hand nacheinander geschickt geraubt. Das Ergebnis ist, dass sie selbst alles verliert und ihre Existenz am Ende nur noch dazu dient, Dinge von außen durch sich hindurch passieren zu lassen. Sie wird von einem so heftigen Gefühl der Einsamkeit überwältigt, dass sich ihr ganzer Körper mit Gänsehaut überzieht. Sie schreit laut auf. Nein, ich will nicht so werden! Doch obwohl sie laut schreien wollte, kommt nur ein kaum vernehmbarer Ton aus ihrer Kehle.
    Sie wünscht sich, wieder in tiefen Schlaf zu fallen. Wie wunderbar es wäre, wenn ich einschlafen und wieder in meiner eigenen Wirklichkeit aufwachen würde. Eine andere Fluchtmöglichkeit fällt Eri im Augenblick nicht ein. Immerhin könnte ein Versuch sich lohnen. Aber ein solcher Schlafzustand ist nicht leicht zu erlangen, zumal sie gerade erst aus einem allzu langen und tiefen Schlafaufgewacht ist. So tief, dass sie ihre Ausgangswirklichkeit vergessen hat.
    Sie dreht den silberfarbenen Bleistift, den sie aufgehoben hat, zwischen den Fingern, in der vagen Hoffnung, das werde ihr Gedächtnis beleben. Doch in ihren Fingerspitzen spürt sie nichts als den unendlichen Durst ihres Herzens. Ohne es zu bemerken, lässt sie den Bleistift zu Boden fallen. Sie legt sich ins Bett, deckt sich zu und schließt die Augen.
    Niemand weiß, dass ich hier bin, denkt sie. So viel ist mir klar. Niemand weiß, dass ich hier bin.
    Wir wissen es. Aber wir haben nicht die Macht einzugreifen.
    Wir schauen auf Eris im Bett liegende Gestalt hinunter. Dann ziehen wir unseren Blick allmählich zurück. Wir durchdringen die Zimmerdecke und entfernen uns langsam. Weiter und weiter. Eri Asai wird immer kleiner, dann ist sie nur noch ein Punkt und bald ganz verschwunden. Wir erhöhen die Geschwindigkeit und entschwinden rückwärts in die Stratosphäre. Die Erdkugel wird kleiner, bis zum Schluss auch sie verschwunden ist. Unser Blick zieht sich zurück, weit fort bis ins leere Nichts. Diese Bewegung können wir nicht kontrollieren.
    Unversehens sind wir wieder in Eri Asais Zimmer. Im Bett ist niemand. Wir schauen auf den Bildschirm. Nichts als Sandsturm. Und ein Dauerton, der in den Ohren schmerzt. Wir starren eine Weile ziellos in den Sandsturm.
    Allmählich wird es im Zimmer dunkel. Das Licht schwindet rasch. Der Sandsturm ist auch verebbt. Völlige Finsternis stellt sich ein.

11
    03:42 Uhr
    Mari und Takahashi sitzen nebeneinander auf einer Bank in einem länglichen kleinen Park mitten in der Stadt. Es gibt hier ein paar alte kommunale Wohnblocks, und in einer Ecke hat man einen Kinderspielplatz mit Schaukeln, Wippen und einem Trinkbrunnen eingerichtet. Wasserstofflampen beleuchten die Umgebung. Dunkle Bäume strecken ihre Äste hoch in den Himmel, und es gibt eine Menge Buschwerk. Gefallenes Laub bedeckt den Boden völlig. Wenn man hindurchgeht, raschelt es. Es ist noch nicht ganz vier Uhr morgens, und außer den beiden ist niemand im Park. Als scharfe Sichel steht der bleiche Herbstmond am Himmel. Mari hat ein weißes Katzenjunges auf den Knien und füttert es mit dem Sandwich, das sie in einer Papierserviette mitgebracht hat. Zierlich frisst ihr das Kätzchen aus der Hand, während sie sacht seinen Rücken streichelt. Mehrere andere Katzen schauen aus einer gewissen Entfernung zu.
    »Als ich im >Alphaville< gearbeitet habe, bin ich in meiner Pause oft mit etwas zu futtern hergekommen, um die Katzen zu streicheln«, sagt Takahashi. »Ich wohne ja jetzt allein in einem Apartment und kann keine Katze halten. Da sehne ich mich danach, sie anzufassen.«
    »Hattet ihr zu Hause eine Katze?«, fragt Mari. »Sozusagen als Ersatz für fehlende Geschwister.«
    »Magst du keine Hunde?«
    »Doch, auch. Ich hatte schon mehrere. Aber Katzen liegen mir mehr.«
    »Ich hatte noch nie einen Hund oder eine Katze«, sagt Mari. »Meine Schwester ist allergisch gegen Tierhaare und muss endlos niesen.«
    »Ach so.«
    »Schon seit ihrer Kindheit ist sie gegen alles Mögliche allergisch: Pollen von Zedernblüten, Traubenkraut, Makrele, Garnelen, frische Farbe und noch vieles andere.«
    »Gegen frische Farbe?« Takahashi runzelt die Stirn. »Von so einer Allergie habe ich noch nie gehört.«
    »Jedenfalls ist es so. Es treten wirklich Beschwerden auf.«
    »Was für welche denn?«
    »Sie bekommt Ausschlag und kriegt keine Luft mehr. In der Luftröhre

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