Agent 6
versteckte er seine Warnung hinter einem Lächeln.
– Wir wollen unserem Besucher zeigen, dass das sowjetische Bildungssystem zu den besten der Welt gehört.
Der Direktor sagte mit matter Stimme:
– Ich wünschte, Sie hätten mich vorgewarnt.
Austin trat vor.
– Keine Vorwarnung. Kein Aufhebens. Keine Umstände. Und keine Vorbereitungen. Ich möchte mich umschauen, sehen, was Sie hier so machen. Und wie die Dinge laufen. Vergessen Sie, dass ich überhaupt hier bin.
Dann wandte sich Austin an Leo.
– Wie wäre es, wenn wir uns den Unterricht ansehen?
Geschickt antwortete Leo:
– Vielleicht bei den Naturwissenschaften?
– Unterrichtet Ihre Freundin das?
Als der Direktor hörte, eine Lehrerin sei Leos Freundin, starrte er ihn an. Leo ignorierte ihn und antwortete Austin:
– Nein. Sie gibt Politik.
– Na, Politik mögen wir doch alle, oder?
Alle lachten, mit Ausnahme von Leo und dem Direktor. Austin fügte hinzu:
– Wie heißt sie gleich? Haben Sie mir das eigentlich schon gesagt?
Leo wusste nicht mehr, ob er den Namen Lena erwähnt hatte oder nicht.
– Wie sie heißt?
Ihren echten Namen kannte er ja offenbar nicht. Und der Direktor war zu eingeschüchtert oder zu begriffsstutzig, um ihm beizuspringen.
– Sie heißt …
Leo ließ die Akte absichtlich fallen, sie glitt ihm aus der Hand, und die Papiere rutschten heraus. Er bückte sich, hob sie auf und sah sie dabei durch.
– Sie heißt Raisa.
*
Der Direktor führte sie zu Klassenzimmer 23 im zweiten Stock, hinter sich die Funktionäre, neben sich Austin, der gelegentlich stehen blieb, um ein Plakat an einer Wand zu betrachten oder in ein anderes Klassenzimmer zu spähen. In diesen Pausen musste Leo warten, aber er konnte nicht stillstehen. Er hatte keine Ahnung, wie die Frau, die ihn wegen ihres Namens angelogen hatte, reagieren würde. Als sie endlich das Klassenzimmer erreichten, blickte Leo durch das kleine Fenster in den Raum. Vor der Klasse stand die Frau, die er in der Metro getroffen hatte, die Frau, mit der er in der Straßenbahn gesprochen hatte, die Frau, die ihm gesagt hatte, sie heiße Lena. Zu spät fiel ihm ein, dass sie vielleicht verheiratet war. Vielleicht hatte sie selbst Kinder. Solange sie klug reagierte, würde ihnen beiden nichts passieren.
Leo öffnete die Tür. Die Delegation folgte ihm, bald füllte sich der Eingang zum Klassenzimmer mit Funktionären, vor denen der Schuldirektor mit Jesse Austin stand. Verblüfft standen die Schüler auf, ihre Blicke huschten von Leos Uniform zum angespannten Gesicht des Direktors und weiter zu Austins breitem Lächeln.
Raisa drehte sich zu Leo um, in den staubweißen Fingern ein Stückchen Kreide. Abgesehen von Austin war sie der einzige Mensch im Raum, der ruhig wirkte. Ihre Haltung war bemerkenswert, und Leo wurde wieder bewusst, warum er sie so anziehend fand. Er sprach sie mit ihrem richtigen Namen an, als würde er gar keinen anderen kennen.
– Raisa, es tut mir leid, dass wir hier so hereinplatzen, aber unser Gast Jesse Austin wollte eine Schule besuchen, und da habe ich natürlich an deine gedacht.
Austin trat vor und streckte die Hand aus.
– Seien Sie ihm nicht böse. Es ist meine Schuld. Ich wollte Sie überraschen.
Raisa nickte, sie hatte die Situation sofort erfasst.
– Das ist Ihnen gelungen.
Nachdem ihr Leos Uniform aufgefallen war, sagte sie zu Austin:
– Mr. Austin, ich finde Ihre Musik wunderbar.
Austin lächelte und fragte gespielt schüchtern:
– Sie kennen meine Musik?
– Sie sind einer der wenigen westlichen …
Raisa warf einen Blick auf die versammelten Parteifunktionäre. Dann beendete sie den Satz besonnen:
– … westlichen Musiker, die wir Russen gerne hören.
Austin war hocherfreut.
– Das ist sehr nett von Ihnen.
Raisa sah Leo kurz an.
– Ich fühlte mich geschmeichelt, dass so wichtige Besucher meinen Unterricht beehren.
– Dürfte ich Ihnen beim Unterrichten zusehen?
– Nehmen Sie meinen Stuhl.
– Nein, ich bleibe stehen. Wir stören nicht, versprochen! Machen Sie einfach weiter. Alles ganz normal.
Eine komische Vorstellung, dass der Unterricht normal verlaufen würde. Leo war leicht hysterisch und schwindelig zumute. Er verspürte eine so tiefe Dankbarkeit, dass es ihm schwerfiel, nicht Raisas Hände zu ergreifen und sie zu küssen. Sie hielt ihren Unterricht und ignorierte dabei, dass die Kinder ihr nicht zuhörten, weil sie viel zu sehr von dem Überraschungsbesuch fasziniert
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