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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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keinen Kontakt mehr zu russischen Behörden. Wir wissen nichts über einen Besuch oder über irgendwelche Pläne.
    Yates nickte herablassend:
    – Liest du nicht mal die Zeitung? Du weißt wahrscheinlich nicht mal, wo Russland ist, oder? Singende Russen? Das müsste doch ganz dein Geschmack sein, Jesse – ein Haufen hübscher, junger Kommunistenmädels, die Lieder singen? Hast du früher nicht auch mal gesungen? Hast du nicht irgendwas in der Richtung gemacht?
    – Das war mal, Mr. Yates, Sie haben dem ein Ende bereitet.
    – Mit mir hatte das nichts zu tun. Es ist doch kein Verbrechen, ein Lied zu singen. Nur sind manche Lieder beliebt, und andere Lieder, deine Kommunistenlieder, finden heute kein Publikum mehr. Die Zeiten ändern sich, und die Geschmäcker auch. Man hat dich vergessen, meinst du nicht auch, Jesse? Das ist so traurig. Findest du es nicht auch traurig? Ich könnte heulen, so traurig geht es auf der Welt zu. Karrieren gehen den Bach runter, Talent wird verschwendet, traurig, traurig, traurig, so verdammt traurig.
    Anna zuckte zusammen. Sie ließ Jesse nicht aus den Augen, weil sie spürte, dass ihr Mann vielleicht etwas Unüberlegtes sagen würde. Yates jedenfalls hoffte es. Sie sagte:
    – Was wollen Sie hier, Mr. Yates?
    – Das ist ja fast eine Beleidigung. Ich glaube, Sie haben mir nicht richtig zugehört. Die Sowjets haben Sie zu diesem Konzert eingeladen. Ein paar Kontaktversuche haben wir zwar verhindert, aber diese Leute geben nicht so leicht auf. Die wollen, dass du kommst. Und ich will wissen, warum. Es ist mein Job, Männer wie dich …
    Jesse unterbrach ihn:
    – Und was für Männer sind das?
    Yates hatte genug von dem Geplänkel.
    – Was für Männer ich meine? Männer, die öffentlich sagen, sie würden bei einem Krieg mit den Sowjets nicht für Amerika kämpfen; Männer, die in diesem Land leben und es bei jeder Gelegenheit verraten. Was für Männer ich meine? Kommunisten, die meine ich.
    Yates senkte den Blick auf Jesses Schuhe. Sie waren alt, abgetragen, aber von bester Qualität, vielleicht italienisch oder irgendwas Extravagantes, Europäisches, noch ein Relikt aus der Zeit, in der er viel verdiente, mehr in einem Jahr, als Yates im ganzen Leben verdienen würde. Aber wer würde das jetzt noch erkennen? Während er immer noch auf die Schuhe blickte, sagte er:
    – Weißt du, was mich wirklich wütend macht, Jesse?
    – Sie macht bestimmt vieles wütend, Mr. Yates.
    – Das stimmt. Mir platzt bei vielen Dingen der Kragen. Aber schlimmer als alles andere sind Leute, die es in diesem Land zu etwas gebracht haben, Leute wie du, die nichts hatten und so viel Geld verdienen, einen solchen Erfolg haben und sich dann einfach mit einem anderen Regime einlassen. Die Sowjets haben dir nichts gegeben. Sie können nicht einmal ihr eigenes Volk ernähren. Wie kannst du sie lieben und uns nicht? Wie kannst du über sie singen und über uns nicht? Du bist der amerikanische Traum, Jesse, verstehst du das nicht? Du bist der verdammte amerikanische Traum. Und das ist eine Schande.
    Yates wischte sich über die Stirn. Sein Herz hämmerte. Das war kein Spaß mehr. Er holte tief Luft.
    – Es ist so heiß hier, ich verstehe nicht, wie ihr schlafen könnt. Wie könnt ihr hier atmen? Ihr müsst andere Lungen haben.
    Anna entgegnete mit sanfter Stimme:
    – Wir atmen genau wie Sie, Agent Yates.
    Yates zog die Lippe kraus, als könnte er das nicht glauben.
    – Hatte Ihre letzte Wohnung nicht eine Klimaanlage? Das vermissen Sie bestimmt.
    Als keiner von beiden antwortete, verlor Yates das Interesse daran, sie weiter zu provozieren.
    – Ich bin hier fertig. Ich lasse euch jetzt in Ruhe. Eine letzte Frage, bevor ich gehe, eine philosophische Frage, über die wir alle nachdenken können. Glaubt ihr, dass es in der Sowjetunion Menschen gibt, die ihr Land hassen? Glaubt ihr nicht, die Welt wäre viel einfacher, wenn diese Leute hier leben würden und ihr nach Russland geht?
    Jesse sagte sofort:
    – Mr. Yates, Sie können mich beleidigen, wie Sie wollen. Aber Sie können mir nicht sagen, dass dieses Land nicht genauso meine Heimat ist wie Ihre. Es …
    Yates unterbrach ihn, während er sich zum Gehen wandte:
    – Das kann ich dir nicht nur sagen, Jesse, ich werde dich auch so weit bringen, es zu verstehen. Und du kannst mir glauben: Es wäre klug von dir, das Konzert nicht zu besuchen. Das wäre wirklich klug.

Manhattan
Am selben Tag
    Elena krümmte die Finger zu Fäusten zusammen, damit

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