Agent 6
ihre Hände nicht zitterten. Ihr Herz klopfte wild, zwei Schläge pro Sekunde. Sie musste sich beruhigen. Der erste Teil ihres Plans hatte funktioniert. Sie hatte sich unbemerkt aus dem Hotel geschlichen. Ihr Liebhaber Mikael Iwanow hatte den Grundriss des Grand Metropolitan genau studiert und ein Schlupfloch entdeckt: den Swimmingpool mit Sonnendeck im vierten Stock, der nur am Eingang überwacht wurde. Die amerikanische Sicherheitspolizei hatte fälschlicherweise angenommen, man käme nur vom Hotelflur aus hinein und wieder raus.
Das Taxi fuhr am Central Park vorbei und hielt auf den nördlichen Teil der Stadt zu. Unterschwellig war ihr klar, dass sie sich alles ansehen sollte, den Park, die Wohntürme, die Menschen auf den Gehwegen, aber sie war zu abgelenkt und konnte sich nicht konzentrieren; die Stadt huschte als undeutliche Schemen vorbei. Durch die Heckscheibe beobachtete sie, ob jemand dem Taxi folgte. So viel Verkehr hatte sie noch nie erlebt, eine unglaubliche Masse an Autos. Nur wenige waren Dienstwagen, die meisten schienen Privatleuten zu gehören. Sie hätte gestaunt, wäre ihr nicht so übel und schwindlig gewesen. Das lag sicher an dem Geruckel des Autos. Der Gedanke, dass ihre Nerven nicht mitspielten, gefiel ihr gar nicht. Ihr Leben lang war sie immer die schwächere, jüngere Schwester gewesen – ruhig und artig, die Schwester, die nie Ärger machte. Soja hingegen war unabhängig, entschlossen, beeindruckend. Immer hatte Soja für sie beide Entscheidungen getroffen. Sie hatte das Sagen. Elena hatte sich stets gefügt und auf das Urteil ihrer Schwester gehört. Nach diesem Muster funktionierte ihre Beziehung schon, seit sie denken konnten. Aber Elena hatte einen eigenen Kopf. Jetzt musste sie aus dem Schatten ihrer Schwester treten und herausfinden, wer sie war. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte man ihr eine wichtige Aufgabe anvertraut. Es musste erst jemand kommen, der nicht zur Familie gehörte, um ihr Potential zu erkennen. Mikael hatte sie ausgesucht. Er betrachtete sie als erwachsen und ihm ebenbürtig. Schon bevor sie sich verliebt hatten, hatte er nie herablassend mit ihr geredet, und er hatte ihr anvertraut, warum er wirklich dieser Reise zugeteilt war.
Mikael arbeitete für eine geheime Abteilung im Propagandaministerium, die SERVICE.A hieß. Er hatte Elena erklärt, seine Abteilung sollte die positiven Seiten des Kommunismus bekannter machen. Es gehe darum, die Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems aufzuzeigen und Argumente für den Kommunismus zu liefern, ohne mit militärischer Stärke oder Einschüchterung zu arbeiten – SERVICE.A sollte eine Ideologie erneuern, die durch überzogene Maßnahmen gegen die eigene Bevölkerung beschmutzt worden war. Als Mikael erfuhr, dass Elenas leibliche Eltern von der sowjetischen Geheimpolizei ermordet worden waren, gab er zu, dass die Partei Fehler begangen habe. Fehler, die den Blick auf die ideologische Überlegenheit des Kommunismus verstellten. Der Kommunismus stand für die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Gleichheit der Rassen, und er wollte unterbinden, dass die breite Masse im Elend lebte, während wenige im Luxus schwelgten. Auf Themen wie Diskriminierung und Vorurteile sprang Elena sofort an, und als man ihr die Möglichkeit bot, etwas zu bewirken, willigte sie ein. Elena hatte während Stalins Herrschaft so viel verloren, sogar ihre Eltern, trotzdem glaubte sie, dass die mörderischen Gewaltexzesse eines einzelnen Tyrannen nicht den Traum von einer gerechten Gesellschaft zunichtemachen sollten. Sie würde nicht so zynisch werden wie Leo.
SERVICE.A war, wie Mikael es nannte, nur für passive Einsätze zuständig. Die Abteilung finanzierte etwa Publikationen und versorgte Sympathisanten mit Geldern. Sie war eine gewaltfreie Organisation, die zum Widerspruch anregte. Sie hatte amerikanische Akademiker und Journalisten angeheuert, die ehrlich über die Fehler der kapitalistischen Gesellschaft berichten sollten, und einen Verlag gegründet, der kontroverse Manuskripte annahm, die andere Verleger nicht anrührten. Zu seinen Publikationen gehörte ein Buch, in dem behauptet wurde, Kennedy sei von der extremen Rechten ermordet worden, einer Verschwörergruppe aus Waffen- und Ölmagnaten. Mit seinen feministischen Texten hatte der Verlag weniger kommerziellen Erfolg, dafür aber akademisches Ansehen erlangt. Allerdings erschien es bei vielleicht hundert verkauften Exemplaren eher unwahrscheinlich, Amerika durch die
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