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Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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sich niemand auf die Treppen setzen sollte. Eine komische Aufforderung, wenn beinahe jede Haustreppe voll von Männern war.
    Die Wohnung lag ein kurzes Stück entfernt. Sie ging an dem Straßenverkäufer vorbei und an den Kindern, die an unförmigen Eisbröckchen lutschten. Offenbar hatten sie dem Verkäufer etwas Eis geklaut, als er nicht hingesehen hatte. So fremd hatte sie sich noch nie gefühlt. Sie war so befangen, dass es ihr schwerfiel, weiterzugehen und nicht zum Taxi zurückzulaufen. Dann hatte sie das Haus beinahe erreicht.
    Auf der Treppe stand ein Mann, ein großer Weißer in einem Anzug, der eine Zigarette rauchte. Elena war vorgewarnt, dass Mr. Austin von der amerikanischen Geheimpolizei unter Druck gesetzt wurde. Sie wusste nicht, ob dieser Mann ein Agent war, aber dass er nicht hierhergehörte, war offensichtlich, beinahe genauso offensichtlich wie bei ihr. Ihr Blick huschte umher, suchte ein Versteck. Aber es war zu spät. Er hatte sie gesehen. Sie hatte keine Wahl. Sie ging schneller und tat, als hätte sie es eilig. Gleichzeitig kam er die Stufen herunter, um sie abzufangen. Als er näher kam, hielt Elena mit gesenktem Blick den Atem an.
    Sie liefen auf dem Gehweg aneinander vorüber. Elena ging an Mr. Austins Haus vorbei, als wäre sie zu einem anderen Ziel unterwegs. Sobald sie um die nächste Ecke gebogen war, drückte sie sich mit dem Rücken gegen die Mauer. Der Weg zu Mr. Austins Wohnung war ihr versperrt. Und auch der Weg zum Taxi.

Am selben Tag
    Jesse Austin betrachtete sich als Optimisten, und es war ungewohnt für ihn, diese lauernde Verzweiflung zu spüren und hin und wieder einen flüchtigen Blick auf sie zu erhaschen. Schon bei den wenigen Schritten durch die Wohnung zeigte seine Frau ihre tiefe Müdigkeit, ihr früher munterer Gang war schweren, wiegenden Schritten gewichen. Ihre Erschöpfung ging tiefer als die harte Arbeit oder die Geldsorgen, sie sank bis in ihre Knochen und machte sie schwer wie Blei. Sie war mürbe geworden. Die ständigen Sorgen hatten ihr Haar stumpf gemacht und ihre Augen getrübt, hatten ihr das Blut aus den Lippen gequetscht und sogar ihre Art zu sprechen verändert. Ihre Worte klangen nicht mehr spielerisch, sie sirrten nicht mehr vor verschmitzter Intelligenz. Jetzt tropften sie von ihren Lippen, als läge auf jeder Silbe eine Last, sie verrieten eine Müdigkeit, die sich nicht durch ein langes Ausschlafen oder ein paar freie Tage vertreiben ließ. In den letzten Jahren hatte er sich gefragt, ob Annas Stärke und Belastbarkeit nicht eher ein Fluch als ein Geschenk waren. Jede andere Frau wäre unter der Last zusammengebrochen und hätte ihn verlassen. Geschäftspartner und Freunde hatte den Kontakt zu ihm abgebrochen. Ein paar hatten sogar gegen ihn ausgesagt, sie hatten bei Anhörungen der HUAC zitternd vor Empörung mit dem Finger auf ihn gezeigt, als hätte er einen Mord begangen. Aber nicht Anna, keine Sekunde lang, und es verging kein Tag, an dem Jesse wegen ihrer Liebe nicht Demut empfand.
    Anna hatte recht behalten. Sie hatte prophezeit, dass die Männer, die er sich zu Feinden machte, rachsüchtig waren und nichts vergaßen. Jesse hatte Witze darüber gerissen, dass die Behörden ihm alles nehmen konnten, nur nicht seine Stimme, und solange er seine Stimme besaß, würde er auch Konzerte geben können. Er hatte sich geirrt. In den dreißiger Jahren war er zum Teil vor zwanzigtausend Zuhörern aufgetreten. Bei einer Tournee 1937 sahen ihn auf der ganzen Welt eine Million Menschen. Heute wurde er nirgends mehr gebucht, nicht für die großen Konzertsäle, nicht einmal in kleinen, verrauchten Bars, wo das Klirren der Flaschen den Gesang übertönte. Es genügte nicht, dass Jesse in einem Vertrag unterschrieb, er würde keine Reden halten und nur Lieder singen, die vorher als problemlos abgesegnet wurden. Am Tag nach seinem Auftritt bekam der Veranstaltungsort unweigerlich Besuch vom Arbeitsschutzinspektor oder von der Polizei wegen einer angeblichen Störung, einer Prügelei auf der Straße. Auf jeden Fall wurde der Laden für mehrere Wochen dichtgemacht. Auch wenn man das prinzipiell empörend fand, konnte sich doch niemand leisten, den gleichen Fehler ein zweites Mal zu begehen. Tat man es doch, verlor man seine Konzession. Die Veranstalter, die Jesse früher nach seinen Konzerten die Hand geschüttelt hatten, mit Tränen in den Augen und überquellenden Kassen, besaßen nicht einmal den Anstand, ihm die Wahrheit zu sagen. Er konnte ihnen nicht

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