Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Agent 6

Titel: Agent 6 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
Vom Netzwerk:
vorwerfen, dass sie ihre Interessen wahrten, aber mussten sie lügen? Sie sagten ihm, er sei zu alt, oder seine Musik sei nicht mehr zeitgemäß. Sie beleidigten ihn lieber, als ihre Angst einzugestehen.
    Es war Ironie des Schicksals, dass Jesses Erscheinen vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe im Juli 1956 zu seinem letzten großen Auftritt wurde. Bei seiner Befragung rechneten die Abgeordneten Jesses Reden für den Kommunismus gegen seine Kritik an Amerika auf. Hatte er gesagt, er würde sich in der Sowjetunion eher zu Hause fühlen als in den USA ? Jesse versuchte, diese Äußerung zu erklären: Den Begriff zu Hause hatte er darauf bezogen, dass er in der Sowjetunion Respekt erfuhr, während er im eigenen Land beschimpft wurde, man Schwarze diskriminierte und unterdrückte. Es wurden Aufnahmen von seiner Rede in Moskau im Jahr 1950 gezeigt, aus der Fabrik Serp-i-Molot; am unteren Bildschirmrand lief als Untertitel eine falsche Übersetzung:
    JESSE AUSTIN: Die Freiheitsstatue gehört hierher, nach Moskau, nicht nach New York.
    Er hatte gehört, wie die Zuhörer im Repräsentantenhaus nach Luft schnappten und die Stifte der Reporter über ihre Blöcke kratzten. Nachdem er enorme Summen für Anwälte ausgegeben hatte, musste er erkennen, dass man sich gegen Unterstellungen nicht verteidigen konnte. Zitate wurden, völlig aus dem Kontext gerissen, in den Raum geworfen. Man diskutierte seine Weigerung, eine eidesstattliche Erklärung gegen den Kommunismus zu unterschreiben. Durch die ganze Reihe wurden Fotos von seinen Besuchen in Moskau gereicht, auf denen einige Personen neben ihm mit einem Kreis markiert waren. Sie wurden als KGB -Agenten angeprangert, als Monster, die Zivilisten ermordet und versklavt hatten. Jesse hatte Widerspruch eingelegt: Der Ausschuss besaß keine Beweise, um die Anschuldigungen zu untermauern. Sie hatten zurückgebrüllt, die markierten Männer seien Offiziere der Geheimpolizei gewesen, und die Geheimpolizei sei erwiesenermaßen ein Instrument der Schreckensherrschaft. Wollte er etwa abstreiten, dass es in der Sowjetunion Arbeitslager gab, die sein Gerede von Gleichheit und Gerechtigkeit zu einer Farce machten? Er hatte geantwortet, dass drakonische Maßnahmen, falls sie überhaupt eingesetzt wurden, nur Faschisten gälten und dass die ungehinderte Verbreitung dieses Gedankenguts in Deutschland Millionen Menschen das Leben gekostet habe. Wegen ein paar toter Faschisten würde er keine Träne vergießen.
    Obwohl ihn kein Gericht wegen irgendeiner Straftat verurteilt hatte, musste er seinen Pass abgeben. Er konnte weder die Sowjetunion besuchen noch Einladungen aus nicht-kommunistischen Ländern wie England, Frankreich oder Kanada annehmen. Er wurde nicht mehr für öffentliche Auftritte gebucht, seine Plattenkarriere wurde abgewürgt. Die Radiosender spielten seine Musik nicht mehr, und die Plattenfirmen wollte ihn nicht mehr vertreiben. Seine alten Alben verschwanden aus den Läden – seine Erfolge wurden unsichtbar. Er bekam keine Tantiemen mehr. Seit er sechzehn war, hatte er Steuern gezahlt, hatte zigtausend Dollar aus anderen Ländern eingebracht, und jetzt nahm ihm der Staat seine Existenzgrundlage und sich selbst eine Steuerquelle. Sein Einkommen fiel auf weniger als vierhundert Dollar im Jahr. Seine Ersparnisse waren von Anwalts- und Gerichtskosten aufgefressen, unter anderem für eine Klage gegen seine Plattenfirma wegen Vertragsbruchs. Kein Gericht urteilte je zu seinen Gunsten. Es hatte zwölf Jahre gedauert, jetzt endlich war er arm. Sie hatten bekommen, was sie wollten. Er besaß nichts, genau wie vor seiner Karriere. Als er sein Apartment in der Nähe des Central Parks verkaufen musste, war er überzeugt, das FBI hätte jedem potentiellen Käufer von seinen finanziellen Schwierigkeiten erzählt. Der Kaufpreis erreichte gerade die Hälfte des tatsächlichen Wertes und deckte nicht einmal die Schulden.
    Anna öffnete das Fenster, setzte sich auf den Sims und blicke hinunter auf die Straße. Ein paar Haarsträhnen rahmten ihr Gesicht ein, sie warteten auf eine Brise, die so bald nicht aufkommen würde. Jesse trat zu ihr, schlang ihr einen Arm um die schmale Taille und lehnte den Kopf gegen ihre Schulter. Er wollte tausend Mal sagen, dass es ihm leidtat. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken.
    Als es an der Tür klopfte, drehten sie sich gleichzeitig um. Jesse spürte die Anspannung in Annas Körper. Der Unterschied zwischen dem Klopfen eines Agenten und dem Klopfen

Weitere Kostenlose Bücher