Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
abgestempelt. Kinder und Jugendliche heute können nicht so einfach mundtot gemacht werden, dennoch sind sie hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu ihren Eltern, ihrem Vertrauen in Erwachsene und ihrer Erfahrung, für etwas ungerechterweise beschuldigt zu werden. Das moralische und intellektuelle Paradox entzieht sich ihrem Verstand – so wie es sich auch dem der Erwachsenen entzieht –, und folglich reagieren sie »primitiv«, das heißt: aggressiv, und die automatisierte, unreflektierte Antwort der Erwachsenen macht alles noch viel schlimmer.
Fritz Perls, der Gründer der Gestalttherapie, sagte einmal, dass Aggression so etwas wie der »Zahn der Psyche« sei – eine Emotion, die uns hilft, unsere Erfahrungen zu zerkleinern, um sie besser kauen und verdauen zu können. Der Vorgang ist vielleicht nicht ganz akkurat beschrieben, aber die Metapher ist sehr hilfreich und sollte deshalb nicht in Vergessenheit geraten.
Die meisten der bestehenden Theorien und Studien haben sich am Individuum und dessen vergangenen Erfahrungen ausgerichtet. Wenn ein Mann seine Frau misshandelt, können wir in dessen Kindheit gewiss einige Geschehnisse ausmachen, die uns helfen, sein inadäquates Verhalten zu erklären. Wir erkennen die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen und ihres Einflusses auf das Verhalten des Einzelnen an. Bis vor kurzem wurde dies auf ein Verhalten beschränkt, das wir moralisch für falsch befinden:
Kein Wunder, dass du wütend bist auf deinen Vater. Er war nie für dich da.
Kein Wunder, dass du es hasst, dass deine Mutter dein Leben ständig kontrolliert.
Ich wäre ebenfalls auf meinen Onkel wütend, wenn er mich sexuell missbraucht hätte.
Selbstverständlich lehnst du deine Schwester ab, wenn deine Eltern sie immer bevorzugt haben.
Seit wir angefangen haben, uns mehr auf die augenblicklichen Beziehungen zwischen Mann und Frau zu fokussieren, haben wir die Vielfalt des Phänomens entdeckt, welches die allgemeine Qualität jeder einzelnen Beziehung ausmacht. Was wir gelernt haben, ist: Selbst wenn eine Person in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht hat, die sie zu Aggression und Gewalt verleiten, wird ihr aktuelles aggressives Verhalten immer auch durch Phänomene ausgelöst, die sich in der Beziehung zu ihrem Partner hier und jetzt abspielen. Das soll nicht heißen, dass sie unschuldig ist und der Partner oder Kinder schuldig. Das sind irrelevante moralische Urteile. Sie kam unschuldig zu ihrem Verhalten und so auch ihr Partner, beide kamen sie durch ihre Erfahrungen aus der Kindheit zu ihrem Verhalten – entweder wurde ihr aggressives Verhalten der fehlenden Führung seitens der Eltern zugeschrieben oder durch ein soziales Trauma oder ein Foltertrauma verursacht. Als Erwachsene tragen sie jedoch ebenfalls die Verantwortung für das, was sie geworden sind.
Zwei Möglichkeiten gibt es beispielsweise für ein Paar, das schlechte Erfahrungen macht, wenn der Ehemann Alkohol trinkt: Er hört auf zu trinken, und/oder er sucht sich Hilfe, um sich über Vergangenes bewusst zu werden, und bemüht sich, zusammen mit seiner Frau einen guten Weg zu finden, wie sie als Partnerin diesen Prozess unterstützen kann. Das ist in Kürze das, worum es beim »Erwachsen-Werden« oder »Reif-Werden« geht. Sind wir unserer Ursprungsfamilie entwachsen, können wir nicht mehr unsere Eltern, die Schule oder die Gesellschaft für das verantwortlich machen, was wir sind. Wir müssen für uns Verantwortung übernehmen und versuchen, heilsame Beziehungen in unserer neuen Familie zu etablieren.
Eines der Schlüsselphänomene in unseren Beziehungen ist das Bedürfnis, im Leben anderer Menschen wertvoll zu sein . Meiner Erfahrung nach ist dieses Bedürfnis transkulturell und universell. Jede Kultur und Subkultur, ja sogar jede Familie hat ihre eigenen Vorstellungen, wie man wertvoll für die anderen sein kann oder soll. Das Bedürfnis, wertvoll zu sein, teilen wir alle. Zur Not sind wir sogar bereit, Menschen durch Tiere zu ersetzen, nur um diese Erfahrung zu machen: wertvoll für ein Lebewesen zu sein.
Schwierig und irreführend in zwischenmenschlichen Beziehungen – besonders in jenen, die wir zu den nächsten und allerliebsten Menschen haben – ist allerdings, dass das, wofür wir glauben wertvoll für den anderen zu sein, von demjenigen vielleicht ganz anders erfahren wird. Deshalb lautet die Schlussfolgerung: »Liebe ist nicht genug«, um eine erfüllte Beziehung zu gewährleisten. Wir müssen lernen,
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