Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
ethischen Fragestellung: Wie kommt es, dass wir Kinder verurteilen, die aufbrausen, während wir Kindern, die alles »in sich hineinfressen«, so viel Sympathie entgegenbringen?
In einer etwas primitiveren Gesellschaft, die über keinerlei soziale Einblicke verfügt, ist es sinnvoll, potentielle Mörder auszuschließen und Sorge zu tragen für jene, die für sich selbst eine Gefahr darstellen. Es scheint so zu sein, als würden wir uns selbst vor denen, die ihre Wut und Aggression ausleben, schützen, aber für jene wertvoll sein wollen, die ihre Aggression verinnerlichen. In einer modernen Gesellschaft ist dies eine gewaltige Ungerechtigkeit und ein ernsthafter Mangel an Professionalität – insbesondere wenn wir über die Ein- bis Fünfzehnjährigen reden.
Ein Beispiel:
Johann ist ein dreizehnjähriger Junge, der intellektuell betrachtet keine Schulprobleme hat. Eines Tages taucht er bei der Krankenschwester der Schulklinik auf und bittet um einen Hörtest. Sein Gehör ist in Ordnung, und die Schwester fragt ihn, warum er denn diesen Test machen wollte. Er antwortet ihr, dass er manchmal während des Unterrichts Schwierigkeiten habe, zuzuhören. Die Krankenschwester – eine erfahrene Frau um die fünfzig, selbst Mutter und seit langem in ihrem Beruf tätig – fragt den Jungen weiter:
Weißt du, wenn wir in unserem Leben Schwierigkeiten haben, kann sich das unerwartet in verschiedenen Körperteilen bemerkbar machen?
Nein, das wusste ich nicht.
Hör mir zu, Johann, wenn dich etwas belastet, möchte ich gerne wissen, was es ist.
Johann schaut auf den Tisch und ist eine Weile still. Dann schaut er der Krankenschwester in die Augen, und sie merkt, dass der Junge bereit ist, sich ihr anzuvertrauen.
Ja, da gibt es etwas …
Er erzählt ihr, dass sein Vater – vor kurzem noch ein selbständiger Schreiner – vor zwei Jahren bankrottgegangen sei und an einer Nervenkrankheit leide. Die meiste Zeit verbringe er auf der Couch, und immer wieder müsse er in eine Nervenheilanstalt eingewiesen werden. Seine Mutter, eine starke Frau, die von sozialen Diensten keine Hilfe in Anspruch nehmen wolle, versorge jetzt die ganze Familie einschließlich der vierjährigen Schwester Johanns.
Mein Gott, Johann, da musst du viel Verantwortung tragen! Das muss hart sein?!
Das ist alles nicht so schlimm, aber ich mache mir Sorgen, dass ich vielleicht die Krankheit meines Vaters geerbt habe.
Weißt du was, Johann, ich muss darüber ein paar Tage nachdenken, komm dann bitte wieder zu mir, in Ordnung?
Ja.
Vor ihrem nächsten Treffen schaut sich die Krankenschwester Johanns Kartei genauer an und entdeckt, dass er in den letzten drei Monaten in zwei »gewalttätige Vorfälle« verwickelt war. Der erste Vorfall betraf einen Klassenkameraden. Johann und sein Kollege hatten sich hin- und hergeschubst, und der Klassenkamerad ist die Treppen hinuntergefallen. Der zweite ereignete sich, als ein Lehrer ihn am Oberarm ergriff, um ihn schneller ins Klassenzimmer zu befördern. Johann reagierte auf diese Geste, indem er sich umdrehte und den Lehrer von sich stieß. Beide Episoden wurden nur aus der Sicht der beiden »Opfer« beschrieben (bereits in diesem frühen Stadium greift das Tabu und führt zum Ausschluss des »Täters«!).
Als die Krankenschwester dies gelesen hat, überlegt sie sich alles noch einmal, und unglücklicherweise trifft sie die Entscheidung, Johann zu einem Schulpsychologen zu überweisen. Dem Protokoll zufolge war das, was sie tat, die korrekte Vorgehensweise. Hält man sich aber Johanns Bedürfnisse vor Augen, war es eine falsche Entscheidung. – Johann war ein völlig normaler und verantwortlicher Junge, der seine Mutter mit seinen Sorgen und seinem Kummer nicht belasten wollte. Er kam allein mit allem zurecht, das Glas ist dann einige Male übergeschwappt, und er war so beschäftigt mit seinem Inneren, dass er Schwierigkeiten hatte, Dingen zu folgen, die für sein augenblickliches Leben völlig irrelevant waren. Er hat in einer sehr gesunden Weise reagiert, hat Hilfe gesucht und entschieden, sein Leiden einem erwachsenen Menschen mitzuteilen, in den er meinte, Vertrauen haben zu können. Das Einzige, was er gebraucht hätte, wäre ein fünfzehn- oder zwanzigminütiges Gespräch mit einem erfahrenen Menschen, und er wäre wiederhergestellt. Er hätte seine Schule mit Bravour beendet und wäre in sein Erwachsenenleben als selbstbewusster junger Mann geschritten, den die Lebensumstände haben reif werden lassen.
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