Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist (German Edition)
Stattdessen ist er als »aggressiv« abgestempelt, zu einem Klienten gemacht und in eine ungewisse Zukunft entlassen worden. Alles nur wegen des Systems, das ihn umgab, eines Systems, das nur darauf bedacht ist, sich selbst zu schützen, statt das zu (be)achten, was für jeden einzelnen Menschen angemessen und recht wäre. Johanns Geschichte ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Das Aggressionstabu hat ihm den ultimativen Stoß versetzt.
Quellen der Provokation
Da die direkte oder indirekte Botschaft »du bist nicht wertvoll für uns« die Hauptursache aggressiven Verhaltens ist, müssen wir genauer untersuchen, wer Empfänger und wer Sender dieser Botschaft ist, wenn wir destruktive Aggression in unserer Gesellschaft reduzieren wollen – und das ist keine schlechte Idee! Was tun wir, was unterlassen wir, und für wen stellt das einen vorübergehenden oder chronischen Wertverlust dar – für Eltern, Institutionen oder die Gesellschaft?
Eltern
Wir alle wissen, dass Kritik, Strafe, Hohn und Demütigung in vielen Familien die bevorzugten Mittel sind, Kinder großzuziehen, und wir wissen auch, wie schädlich das für die geistige Gesundheit und das soziale Wohlergehen der Kinder ist. Millionen von Eltern haben sich von diesem Erziehungsstil distanziert. Das hat Wunder bewirkt – im Leben der Kinder sowie in der Beziehung zwischen Kindern und Eltern; deren Beziehungsqualität hat sich zum Guten verändert. Vergehen noch einige wenige Jahrzehnte, bin ich überzeugt, dass der alte Erziehungsstil, der auf Kritik und Demütigung fußt, offiziell als »Missbrauch und Vernachlässigung« gelten wird – und das ist gut so.
In den vergangenen fünfzehn Jahren konnten wir einen alternativen Erziehungsstil feststellen – im Grunde sind es mehrere. Er wird von Eltern gepflegt, die nicht autoritär sein und keine verletzende oder aggressive Sprache verwenden wollen. Mit einer beeindruckenden Entschlossenheit und Selbstdisziplin haben Eltern einen sanften, weichen und liebevollen Weg gefunden, um mit ihren Kindern zu kommunizieren – eine Kommunikationsform, die mit Tausenden und fast nicht mehr enden wollenden Erklärungen einhergeht.
Diese Eltern halten sich oft für sehr erfolgreich, bis ihr Kind das Alter von drei, vier Jahren erreicht. Danach fangen sie an, Hilfe und zusätzlichen Rat zu suchen. Sie beklagen sich, dass ihre Kinder nicht auf sie hören und in Wutanfälle ausbrechen – sie erleben die heftigsten Ausbrüche seitens der Kinder, ihre Kinder sind frustriert und wütend, schlagen und kratzen ihre Mutter und kommandieren beim Spiel andere Kinder herum.
Ein Teil dieser Eltern ist sensibel genug, um zu spüren, dass etwas nicht gut gelaufen ist und sie ihren Erziehungsstil ändern müssen. Andere wiederum beschuldigen die Kinder und bemühen sich um eine Diagnose von außen und eine mögliche Medikation oder Therapie. (Die offizielle, internationale Liste kinderpsychiatrischer Diagnosen beschreibt lediglich die Kriterien für jede einzelne Diagnose, die aus dem jüngsten Verhalten des Kindes erwächst, sie beschreibt weder das entsprechende elterliche Verhalten, noch geht sie auf das Spezifische des Umfeldes ein, in dem das Kind aufwächst. Ein ganzer Berufsstand scheint gut mit der Verleugnung leben zu können.)
Aus der Perspektive eines Kindes gibt es drei grundsätzliche Schwierigkeiten bezogen auf diesen »neuromantischen« Erziehungsstil. Die erste Schwierigkeit ist diejenige, die am meisten verwirrt: Solche Eltern haben ähnliche Erwartungen an ihre Kinder wie die autoritären Eltern von früher. [8] Sie wollen nette, höfliche und gehorsame Kinder, zudem aber wollen sie ihren Kindern das Privileg gewähren, ihr individuelles Potential frei zu entfalten. Letzteres stimmt mit ihrem Erziehungsstil teils überein, aber die zugrundeliegende Agenda sendet den Kindern eine widersprüchliche Botschaft. Konsequenterweise führt das bei den Kindern zu einer Verwirrung, so dass sie permanent an die Grenzen ihrer Eltern stoßen, weil sie hinter dem liebevollen Panzer der Eltern substantielle Nahrung suchen. Um zu wissen, wie sich ein Kind fühlt, wenn es so behandelt wird, kann man sich als Erwachsener eine Partnerschaft mit einem anderen Erwachsenen vorstellen, der immer nett und lieb sein will, dann spürt man sehr wohl, dass man entweder verzweifelt oder unglücklich wird – so oder so, in beiden Fällen verliert man das Gefühl, wertvoll zu sein. Die Eltern selbst scheinen zu glauben, ihre Kinder würden
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