Ahnentanz
Sheila war eine andere alte Freundin. Sie war schon immer ein Bücherwurm gewesen und arbeitete inzwischen für die Historische Gesellschaft. Tatsächlich fühlte sich Kendall ihr gegenüber ein bisschen schuldig. Sheila hatte immer die Flynn-Plantage besichtigen wollen, doch Amelia mochte keinen weiteren Besuch haben.
„Du kannst sie anrufen, doch es wird nichts nützen“, sagte Mason.
„Warum?“
Er seufzte. Mason mochte Sheila, das wusste Kendall. Mehr als das, er hatte eine Schwäche für sie. Er würde es nur nicht zugeben.
„Sie ist im Urlaub, erinnerst du dich?“
„Ach ja, richtig.“ Wie hatte sie das vergessen können? Sheila hatte eine dreiwöchige Reise nach Irland geplant. Sie würde erst am Wochenende wiederkommen, und heute war erst Montag.
„Aber“, sagte Mason bestimmt, „wir gehen aus. Wir . Du und ich. Und du erzählst mir, was dir auf dem Herzen liegt.“
Es war schon fünf Uhr, als sie – nachdem sie den Laden sauber gemacht und geschlossen hatten – nun an einem Ecktisch im Hideaway saßen, der Bar, in der Vinnie spielte. Schließlich erzählte Kendall Mason, was sie bedrückte.
„Ich glaube, es ist der Knochen.“
„Der Knochen?“, fragte Mason. „Wovon zum Teufel sprichst du?“
Sie sah ihn an. „Offenbar hat sich ein Obdachloser – oder vielleicht auch mehrere – in den Sklavenquartieren eingenistet. Da lag ziemlich viel Abfall herum. Und ein Knochen.“Entgeisterte starrte er sie noch immer an. „Ein Hühnerknochen? Spareribs?“
„Von einem Menschen“, sagte sie und nahm einen großen Schluck von ihrem Bier.
Aidan hatte nichts dagegen, mit seinen Brüdern auf einen Drink auszugehen. Doch nach dem Tag, den sie hinter sich hatten, hätte er ein paar ruhige Biere in der Hotelbar vorgezogen. Seine beiden Brüder aber waren erpicht darauf, möglichst jeden Bandauftritt in der Gegend zu erleben, auch außerhalb des French Quarter. Für heute Abend hatten sie diese Bar ausgewählt, weil sie die Band nicht nur kannten, sondern sogar einmal mit ihr gespielt hatten.
Er lehnte sich zurück und genoss die wirklich gute Musik. Ein Kompliment, das sich nicht unbedingt auf das Äußere der Bandmitglieder erstreckte. Sie waren zwar keine ausgewiesenen Grufties, doch alle trugen lange schwarze Baumwolljacken über schwarzen Jeans. Er war nicht ganz sicher, war für ein Look das sein sollte. Vampire? Voodoo? Sie nannten sich jedenfalls The Stakes.
Dennoch, die Musik war gut.
Und Musik und Alkohol konnten ein wenig von der Anspannung abbauen, die er verspürte.
Und die hatte am meisten mit Dr. Jon Abel, Detective Hal Vincent und sogar mit Jonas Burningham zu tun.
Er konnte ihre Haltung bis zu einem gewissen Grad verstehen, aber nur bis zu einem gewissen Grad.
Ja, New Orleans und die gesamte Golfregion waren verwüstet worden. Ja, Hunderte von Leichen, die man nicht in oberirdischen Gräbern bestattet hatte, waren aus ihren Särgen und Gräbern herausgespült worden und vermischten sich mit den frischeren Leichen jener, die im Sturm umgekommen waren.
Doch das war kein Grund, die Entdeckung eines menschlichen Knochens nicht mit Respekt und einer gewissen Dringlichkeitzu behandeln. Und es war einfach zu merkwürdig, gleich zwei menschliche Oberschenkelknochen an einem Tag zu finden, auch wenn mehrere Meilen zwischen den Fundorten lagen.
Aidan war darauf gefasst gewesen, dass sich Jon Abel wegen des erneuten Außeneinsatzes beklagte. Doch er war nun mal Gerichtsmediziner und am ehesten qualifiziert, zu bestimmen, ob es eine Verbindung zwischen den beiden Knochen gab. Und tatsächlich hatte er sofort sagen können, dass die Knochen von zwei verschiedenen Personen stammten – außer eine Frau wäre irgendwann mit zwei rechten Beinen herumgelaufen. Doch er war barsch geblieben und offensichtlich verärgert, dass man ihn gerufen hatte.
Hal Vincent hatte ebenso unglücklich gewirkt und darauf hingewiesen, dass sie sich schließlich außerhalb seines Dienstbereichs befänden. Doch er war immerhin höflich geblieben und hatte zugestimmt, dass man den Fund von menschlichen Überresten ernst nehmen müsse. Sogar Jonas hatte so getan, als mache Aidan aus einer Mücke einen Elefanten, und angedeutet, dass er vielleicht eine verspätete Reaktion auf Serenas Tod zeigte.
Und selbst seine Brüder waren von der Heftigkeit seiner Reaktion überrascht, nachdem auch die gründliche Suche keine weiteren Knochen zutage gefördert hatte.
Genau dieser Umstand irritierte Aidan mehr als alles
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