Aina - Herzorgasmus
friedlich. Da war niemand. Keine Menschenseele. Nicht einmal ein Schatten bewegte sich.
10
Mitgefühl
Sein Anwesen war verboten. Für alle. Nur einer handvoll Seinesgleichen war es erlaubt es zu betreten. Der Rest, ob Mensch oder Tier, wagte es ohnehin nicht, auch nur einen Fuß auf die Erde zu setzen, die er beanspruchte. Geradezu intuitiv mieden sie sogar seine Nähe. Sie spürten mehr, als ihnen bewusst war, dachte er, als er am Fenster stand und das kalte Metall des Geländers berührte. Menschen, dachte er und blickte auf die kleine Stadt, die er mit seiner Ankunft ins Chaos gestürzt hatte. Sie sind so ahnungslos.
Der Mond schien auf seine Hand und ließ sie schimmern wie Porzellan. Er spürte immer noch Ainas Faszination darüber, als sie ihn betrachtet hatte und lächelte über ihr Gesicht. Dann hob er seine Hand an und bewegte sie im hellblauen Licht des Mondscheins. Er fühlte die kalte Luft dieser Nacht, die seinen Atem in kleine Nebelwolken verwandelte und immer wieder Gänsehautschauer über seinen Körper schickte und atmete sie tief ein, um jede Zelle seiner Lunge damit in Berührung zu bringen. Welch ein magisches Spiel es war einen menschlichen Körper zu besitzen, dachte er. Einen Körper, der so zerbrechlichund doch so stark war. Er ballte seine Hand zu einer Faust, wobei seine Sehnen und Muskeln hervortraten und spürte zugleich das Beben der Energie in seinen Gliedern. Sie war da, sobald er sie benutzte. Er konnte dieses Geländer mit nur einem Hieb zerbrechen, doch gleichzeitig konnte eine äußere Krafteinwirkung Schaden an seinem Körper anrichten. So, wie dieses Messer, das sie ihm in den Leib gerammt hatte. Er berührte seinen Bauch. Es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen. Kalt und schmerzhaft. Es verwirrte ihn, dass er einerseits verletzlich war und doch unsterblich. Ein Paradoxon, das ihn schon immer fasziniert, das er aber noch nie so deutlich gespürt hatte wie in dieser Nacht. Sein Körper war noch niemals zuvor verletzt worden. Warum hatte er es zugelassen? Hatte er spüren wollen, wie es sich anfühlte erstochen zu werden? Oder wollte er fühlen, wie es war von ihr erstochen zu werden? Warum auch immer er dies zugelassen hatte, es war eine Erfahrung, die ihm erneut verdeutlichte, was er war. Er war das Leben und der Tod. Über beides konnte er bestimmen, denn er war die Vereinigung dieser Gegensätze. Zwei Pole, verschmolzen in einem Körper. Lebend und tot, vergänglich und ewig, strahlend schön und teuflisch zugleich. Sein Körper war eine gute Tarnung. Wie eine Trennwand zwischen den beiden Polen, die er verkörperte. Ein Vorhang, der seine zwei Gesichter teilte, so dass niemand jemals beide Seiten sah. Die Menschen konnten nicht zwei Pole gleichzeitig sehen. Entweder sie sahen sein menschliches Ich – den Körper, der verletzlich war, das schöne Gesicht und das seidige Haar – oder sie sahen die Wirklichkeit – seinen teuflischen Geist, die tief dunkle Seele und die verbrennende, zerstörende Energie, aus der er gemacht war. Unter dem schönen Schein seiner Haut verbarg sich das Monster, das die Menschen am meisten fürchteten. Der Schatten ihrer Selbst. Er verkörperte das Böse, das die Menschen seit ihrerExistenz bekämpften, den Hass, die Wut, den Schmerz. Doch auch ihre geheimen Leidenschaften, Sehnsüchte und Fantasien. Das Teuflische, das in ihrer Welt verboten, verhasst und verpönt war. Alles, was sie in den Schatten verdrängten, war in seinen Geist geflossen und hatte ihn erschaffen. Genauso, wie seinen Bruder. Sie hatten viele Namen auf dieser Welt. Doch, als sie beschlossen hatten in einen menschlichen Körper zu schlüpfen, um sich an den Freuden des Menschseins zu ergötzen, hatten sie sich eigene Namen gegeben. Namen, die niemand kannte und die sie ebenso tarnten, wie ihre schönen, menschlichen Hüllen.
Als er spürte, wie sein Bruder versuchte in seinen Geist vorzudringen, gab er ihm die Antwort, auf die er so sehnsüchtig wartete. Sie hat keine Ahnung, dachte er und sah wieder Ainas verwirrtes Gesicht vor sich. Sie wusste wirklich nicht, dass sie in dieser Nacht ein Wesen angegriffen hatte, das nicht menschlich war. Sie ahnte nicht einmal, dass sie schon ihr Leben lang von diesen Wesen umgeben war. Wie naiv, dachte er. Sie wusste ebenso wenig, wie der Rest der Menschheit, obwohl sie weitaus mehr Kontakt zu den Geheimnissen dieser Welt hatte. Ihre Verwirrung amüsierte ihn noch immer.
Wie ist das möglich?, fragte Angor, sein Bruder.
Sie glaubt,
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