Airborn 02 - Wolkenpiraten
dem Tod so nahe, wie es nur geht – bis du dann stirbst, natürlich.«
Einen Moment lang sagte niemand etwas.
»Das war eine ermutigende kleine Ansprache«, bemerkte ich dann.
»Wir brauchen kein Süßholzgeraspel«, sagte Hal. »Wir müssen vernünftig miteinander reden.«
»Um Cruse mache ich mir keine Sorgen«, warf Dorje lächelnd ein. »Ich glaube nicht, dass er heute viel gelitten hat. Er hat ein Himalajaherz wie meine Leute.«
Ich strahlte innerlich bei diesem Kompliment.
»Grunel hat sein Geld an einer ungewöhnlichen Stelle versteckt«, sagte Hal. »Aber ich weiß, dass es da ist. Also teilen wir das Schiff auf und durchsuchen es, bis es seinen Schatz freigibt.«
Nadira fing an, etwas zu sagen, unterbrach sich aber.
»Was ist?«, wollte ich wissen.
»Es ist nur … Ich frage mich, ob das sonst noch jemand da drin gefühlt hat. Irgendwas beobachtet uns.«
Ein eisiger Hauch wehte mir über den Nacken.
»Geister?« Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten blickte Miss Simpkins auf. »Hast du gesagt, dass es im Schiff spukt?«
»Zigeunergewäsch«, brummelte Hal, doch ich sah, wie er verstohlen zu Dorje hinüberblickte.
»In der Führergondel haben wir alle die Stimme aus dem Sprachrohr gehört«, sagte Nadira.
»Der Wind«, sagte Hal.
»Das haben wir behauptet, um uns besser zu fühlen. Für mich hat das so geklungen, als würde jemand ›Krähennest‹ sagen.«
»So war es, das muss ich leider zugeben«, stimmte Kate ihr zu.
»Jetzt hört mal auf«, sagte Hal gereizt. »Das ist eine Bergung, und zwar eine schwierige. Wir haben keine Zeit für abergläubische Phantastereien.«
»Es wäre besser gewesen, wir hätten den toten Ausguck in seinem Schiff gelassen«, warf Dorje ein.
Hal hob empört die Hände. »Was hätte ich denn tun sollen? Alle auf dem Schiffsrücken rumrutschen lassen, während wir uns mit der Leiche abplagen? Wenn nun einer von euch abgestürzt und umgekommen wäre? Hättet ihr das vorgezogen?«
»Nein«, sagte Dorje. »Aber auf dem Schiff herrscht keine Ruhe. Nadira hat Recht. Ich habe es auch gespürt.«
Auch ich hatte das furchtbare Gefühl einer lauernden Gefahr an Bord der Hyperion nicht vergessen. Und ich dachte an den angstvollen Blick aus Grunels verdeckten Augen.
»Wenn jemand Angst hat, braucht er ja nicht mitzukommen«, sagte Hal leicht verächtlich.
»Ich komme mit«, sagte ich.
»Wir alle«, betonte Kate.
»Das Schiff hat großes Unglück gesehen«, sagte Dorje. »Und die Seelen dieser Männer können noch immer verwirrt und sogar voller Zorn über ihren plötzlichen Tod sein. Wir können nicht erwarten, dass sie mit uns zusammenarbeiten.«
In dieser Nacht schlief ich schlecht. Ich rang nach Atem in der dünnen Luft. Ständig schreckte ich auf. Ich hätte Dorjes Rat annehmen und die Sauerstoffmaske aufsetzen sollen. Aber ich stellte mir Hal in seiner Kabine vor, wie er ohne sie tief und fest schlief.
Ich dachte an Kate. Ich verstand weder sie selbst noch das, was sie für mich empfand. Mein Herz klopfte laut. Ich wünschte, es könnte mir telegrafieren, was ich tun sollte. Ich wünschte, es könnte mir sagen, was für ein Mensch ich selbst eigentlich war.
In den Stunden vor Sonnenaufgang dämmerte ich wieder ein und träumte, ich würde durch unzählige Türen gehen. Es war kein Ende abzusehen. Bei jeder neuen Tür, die ich öffnete, stieg Furcht in mir auf, denn ich spürte, dass auf der anderen Seite etwas auf mich wartete.
Dann kam ich zu einer weiteren Tür und war mir in größter Angst bewusst, dass es die letzte war. Ich drehte den Griff und stieß sie auf.
Sie schwang nur zur Hälfte auf, dann stoppte sie mit einem dumpfen Schlag. Mein Geist und mein Körper wurden von Panik erfasst. Da war etwas hinter der Tür. Ich versuchte, aus dem Traum zu fliehen, aber er gab mich nicht frei.
Irgendetwas trat hinter der Tür hervor. Es war eine Art halb fertig geformter Mann, und ob er Kleider trug, konnte ich nicht sagen, weil sein ganzer Körper unvollendet war. Es schien, als wäre er aus Lehm geformt worden und die Hände seines Schöpfers hätten ihn nicht glatt gestrichen oder ihn nicht ordentlich modelliert. Augen und Mund waren richtig erkennbar, ansonsten war sein Gesicht völlig zerklüftet. Und trotzdem zeigte es einen Ausdruck, keinen bösartigen, sondern einen furchtsamen, als ob auch er völlig überrascht wäre. Wir starrten uns an, sahen unsere Angst in den Augen des anderen gespiegelt, und ich wusste nicht, was er war – ein Freund oder ein
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