Airport-Klinik
– Weil ich ihm helfen will. Er ist ein armes Schwein. Zuhause hat er zwei Kinder. Ein kleiner Land-Geometer. Er liebt seine Frau und seine Familie. Und er ist in die ganze Geschichte nur reingeschlittert.«
»So, reingeschlittert?« Was ging ihn ein Ramon Garcia an? Diesen Drogen-Kurier hatte er über die Runden gebracht. Aber der andere, der kleine Roser … eine massive Sepsis, eine Multi-Infektion, die die Nieren ausschaltete … War es meine Schuld, Herrgott? Bei einem derartigen Unfall-Trauma am Brustkorb? Aber die im Rotkreuz würden das schon schaffen …
»Ich muß ihm helfen«, hörte er Evi sagen. »Ich hab ihm auch einen Rechtsanwalt besorgt. Du verstehst das, nicht wahr?«
»Ich versuche es.«
»Du verstehst es.«
Er nickte und wollte die Schatten loswerden. Da fiel ihm ein, was Evi ihm gestern erzählt hatte. Auch sie fühlte so etwas wie Schuld, ohne schuldig zu sein. Bei ihr war es ein Toter, der ihr diese seelische Last aufbürdete. Ein Mann in Kalifornien, den sie geliebt hatte, ohne je seine Geliebte gewesen zu sein. Ein Vertrauter, der ihr sehr nahe gewesen war. Der, wie sie sagte, sie besser verstanden hatte als je ein anderer Mensch. Und dieser Chris, dessen Existenz sie ihm gegenüber stets unterschlagen hatte, war gestorben, allein, ohne ihre Nähe, ohne ihre Hilfe …
»Und als ich auf dem Rückflug nach Frankfurt über dem Kolumbianer kniete, diesem wildfremden Menschen, und sein Herz wieder zum Schlagen bringen wollte, da war's mir irgendwie, als hätte ich Chris unter mir. Die beiden wurden plötzlich identisch. Gleichzeitig aber war Chris wieder bei mir und half mir, wenn ich aufgeben wollte. Begreifst du das?«
Er begriff es. Er hatte selbst erlebt, daß man sich Vorwürfe für etwas machen kann, an dem man keine Schuld trägt.
»Ach, Evi«, sagte er und stand auf. »Komm, ich hol uns einen Whisky. Und dann schlucken wir einfach alles hinunter.«
Doch sie schüttelte nur den Kopf: »Geht nicht. Funktioniert nicht immer – und was diesen Mann betrifft, der da zugeschlagen hat: Nimm den ernst! Das ist keiner wie Ramon Garcia. Nein, irgendwie habe ich das Gefühl, daß der gefährlich ist …«
Nicht, daß sie Schmerzen hatte – es war eher, als greife eine fremde Gewalt nach ihrem Leib. Zwei Hände, die ihren Rücken zusammenpreßten und sich ihres Innersten bemächtigten.
Maria Schuster ballte die Fäuste. Sie wollte nicht stöhnen. So etwas schickt sich nicht. Und hier auf dem Frankfurter Flughafen schon gar nicht, wo alles so schrecklich vornehm war und so teuer. Die Menschen, die Kleidung, die sie trugen! Alles reiche Leute.
Zu Hause, in der Ukraine, und auch sonst, wenn man als Volksdeutsche nach Moskau flog wegen der Ausreisepapiere, zog jeder an, was er so hatte … Aber hier? Die sahen aus wie Millionäre. Dazu der Flughafen. Und diese wunderschönen schwarzen, federweichen Sessel! Sie konnte doch hier nicht … oh Gott!
Nun kam der Schmerz. In einer einzigen großen Welle … Mund zu! Bleib still!
Aber sie stöhnte.
Der Mann gegenüber ließ seine Zeitung sinken und rückte die Brille zurecht. Die Frau neben ihm setzte sich plötzlich ganz aufrecht, und die beiden Kinder, die wohl zu dem Paar gehörten, hatten die Münder offen.
Sie konnte es ja nicht verhindern. Wie denn? Nichts war zu verhindern. Maria hielt nun beide Hände auf ihr Umstandskleid gepreßt, schloß die Augen und biß sich die Lippen wund.
»Fehlt Ihnen was?« fragte der junge Mann, der neben ihr saß.
Sie wollte den Kopf schütteln, wollte erklären, aber wie konnte sie? Der Schmerz war zu stark, war wie eine Woge, die sie hochtrug. Nun … Nein! Nein! … Warm rann es zwischen ihren Schenkeln, rann über den Polsterrand auf den Boden, bildete eine Lache.
Die Fruchtblase geplatzt! Lieber Himmel …
»Maria?« hörte sie den Ruf. Gott sei Dank – dort drüben kam Heinrich angerannt, ihr Mann. Daß sie ihm das antun, daß ihr das passieren mußte! Nach allem, was sie hinter sich hatten … Und es war doch gutgegangen bisher. Sie hatten einen so weiten Weg zurückgelegt. Von Kalanow – dem Dorf, wo sie zu Hause waren – zuerst nach Saporoschje, von Saporoschje nach Kiew, von Kiew nach Moskau, von Moskau nach Leipzig – in dieses merkwürdige Land, das nur die ganz Betagten im Dorf noch die ›alte Heimat‹ nannten. Ja, und es war noch immer weitergegangen: Leipzig – Frankfurt. Hier in der Nähe sollten sie eine Wohnung und auch eine Arbeit bekommen.
Aber nun – nun kam das Kind
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