Airport-Klinik
schob Brunner einfach zur Seite und rief erstickt: »Karin …«
Hansen hatte genug. Er erhob sich in seiner vollen Größe und breitete die Arme aus: »Jetzt mal alle raus, wenn's recht ist. Dies ist kein Zirkus. Ich bin beim Untersuchen. Also bitte, meine Herrschaften …«
»Karin?« Das Gesicht des Jungen war fahl. Aus den Augen rannen Tränen. »Herr Doktor, ich bin …«
»Wer Sie sind, ist im Moment gar nicht wichtig. – Bitte!«
Die Tür schloß sich. Dr. Hansen konnte sich konzentrieren.
Ein Schmutzstreifen lief quer über die Stirn der Patientin, aber die Farbe kehrte zurück. Und wenn er sich nicht täuschte – ja, ihre Lider zitterten.
»Hören Sie mich?«
Nichts.
Für Hansen bestand nach dem Tastbefund kein Zweifel: Dies war eine Commotio cerebri, eine Gehirnerschütterung. Ob der Schädel intakt geblieben war, das würden die Röntgenaufnahmen ja noch beweisen. Trotzdem: Auch eine leichtere Prell-Verletzung ersten Grades wie diese konnte zu Komplikationen führen.
»Britte! Was wir brauchen, ist Forte-Cortin. Und wenn du das nicht zur Hand hast, tut es auch Dexamethason. Das ist in jedem Fall gut zur Vorbeugung eines Gehirn-Ödems, verstehst du?«
Sie nickte. In den letzten Tagen hatte er mehr und mehr Gefallen an Brittes Arbeit gefunden. Sie arbeitete schweigend, mit höchster Konzentration, nahm alles auf sich, schuftete bis zum Umfallen. Wie sehr er dies anerkannte, zeigte er, indem er ihr jeden seiner Handgriffe und jede Therapie-Phase zu erklären versuchte.
»So, und jetzt das Hämmerchen. Wir machen einen Reflex-Status.«
Die Patientin reagierte deutlich, die Reflexe waren vorhanden und dazu noch ziemlich kräftig. Es kamen ihm Zweifel, ob ihr Zustand, dieses wie gelähmte Daliegen, tatsächlich von einer Bewußtlosigkeit herrührte. Es konnte auch psychosomatisch bedingt sein. Ja, möglicherweise befand sie sich in einer Art seelischem Schock.
Zwei Selbstmordversuche in einem Monat, dachte er, und wieder handelt es sich um eine Frau. Doch was hieß Frau? Die vor ihm lag, war noch ein halbes Kind … Was ist eigentlich in dieser Welt los, wenn sich Kinder unter einen Zug werfen wollen?
Er beugte sich über sie. Er lächelte. »Karin? Hören Sie mich?«
Er suchte ihre Hand und ließ die Finger sanft über den Handrücken streichen, zärtlich, lange, so wie man es bei Kindern tut. »Karin … Hier bei mir bist du in Sicherheit. Hier ist alles gut. Du mußt dir keine Sorgen mehr machen.«
Die Pupillen drehten sich ihm zu. Sie stöhnte leise, nun bewegte sich ihre rechte Hand, preßte sich jäh gegen den Magen.
»Britte!« rief Hansen.
Die Patientin erbrach sich in die Schüssel. Hansen nahm Zellstoff und tupfte ihr vorsichtig den Mund ab.
»Ein Glas Wasser, Britte! – Du hast jetzt Durst, nicht?«
Ein Nicken. Die erste Reaktion. Sie verstand also seine Worte.
»Tut was weh, Karin? Der Kopf, nicht?«
»Ja … schrecklich.«
»Und schwindlig ist dir's auch?«
»Ja.«
»Na, nicht mehr lange. Das geht vorbei. Du wirst sehen …«
Sie legte den Kopf wieder seitlich gegen das Polster, um den Schmerz an der Schwellung zu vermeiden, und schloß die Augen. Tränen quollen durch die langen Wimpern und rannen über die blasse Haut. Sag was! befahl sich Hansen; irgend etwas wird dir doch einfallen. Das letzte Mal warst du ja auch so gut, bei … wie war noch der Name? Ja, Herta. Richtig, Herta Frieske … Doch Herta war ein erwachsener Mensch gewesen und vielleicht mitschuldig an der fehlgeschlagenen Inszenierung, die man ›Schicksal‹ nennt. Aber hier … Ein Kind!
Und ein Kind dazu, von dem er nichts, rein gar nichts wußte …
»Karin?« Er hielt die schmale, schmutzige Hand fest, die seitlich an der Bahre lag. Er drückte sie leicht. »Karin, als sie dich hereinbrachten, kam auch ein junger Mann angerannt. Dein Freund, nicht?«
Sie schwieg. Sie bewegte nur leicht die Lippen.
»Er hat auch geweint, Karin. Er war vollkommen entsetzt.« Und dann stellte er die Frage, die ihm sein ärztlicher Instinkt eingab: »Es war schlimm dort unten im Bahnhof, nicht wahr? Aber bist du nicht froh, daß du jetzt hier bist?«
»Bahnhof«, sagte sie, und die Hand verkrampfte sich. »Bahnhof, ja …«
»Der Zug?«
»Ich weiß nicht … ich weiß wirklich nichts.«
Er hatte es erwartet. Es war nicht der psychische Schock, der sie das Geschehen verdrängen ließ; es war eine retrograde Amnesie. Auf der Landkarte ihres Gedächtnisses war ein weißer Fleck entstanden. Sie würde sich nicht
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