Airport-Klinik
Bank und hielt die Umhängetasche in den verkrampften Händen.
Nun wieder. Diesmal war es der LH-Express.
Die Schnauze war schnittig gelb wie bei einem dieser Hochgeschwindigkeitszüge. Und es waren nur wenige Wagen. Weißgekleidete Kellner sah sie und Gläser auf den kleinen Tischen, auf denen Lampenschirme leuchteten. Ein Dutzend Leute stiegen ein. Dann ruckte der Zug an, gewann an Fahrt, verschwand. Der Tunnel lag wieder leer und still.
Sie nahm die Bilder in sich auf; fast so, wie man einen Film im Fernseher betrachtet. Es war alles unwirklich. Unwirklich und unwichtig. Nun, da sie ihren Entschluß gefaßt hatte, fühlte sie eine sonderbare Schwerelosigkeit. Keine Abschiedsstimmung, nein. Überhaupt: Abschied wovon? Von all dem beschissenen Kram? Von der Gemeinheit, die man Leben nennt?
Es würde sehr einfach sein. Sehr, sehr einfach … Es brauchte nur wenige Schritte. Und nicht einmal Mut.
Sie dachte an ihren früheren Mitschüler Matis Görris aus dem Gymnasium in Stade. Sie hatten so viel darüber gesprochen. Auch in der Klasse waren sie eigentlich der Ansicht, daß es gar nicht so schwierig sein konnte. Matis hatte Schlaftabletten genommen. Dabei war es lächerlich, unbegreiflich, daß er es getan hatte. Es gab ja gar keinen Grund. Eine Fünf in Deutsch, eine verpatzte Physik-Arbeit und der Krach mit seinem Alten, weil er das Auto genommen hatte …
Bei ihr war es anders. Und sie würde auch nicht friedlich im Bett liegen. Sie würde schrecklich aussehen: Nichts als Fleischstücke … Aber spüren würde sie nichts davon, gar nichts. Das wußte sie nun, als sie die Züge sah. Und den Mut dazu hatte sie auch. Mami würde es als Letzte erfahren … Aber zu Vera und zu Papa würde die Polizei kommen. Und Papa würde seine geliebte Vera, dieses miese Stück, in den Arm nehmen und trösten. Bei Vera war er einsame Spitze im Trösten! – Aber du, wann hat er es jemals bei dir versucht …?
Nun, jetzt hatte er wieder Grund, sich um Vera zu kümmern!
Karin blickte den Bahnsteig entlang auf die Leute, die mit der S-Bahn vom Flughafen zurückfuhren. Angestellte waren das. Oder Touristen ohne Geld. Sie sahen alle ziemlich ärmlich aus … Und der alte Mann dort drüben mit seiner Schiffermütze? Der saß ganz gemütlich da und ließ es sich schmecken. Ab und zu nahm er die Flasche hoch.
Ein Penner. Aber irgendwie, fand Karin, sieht er aus wie der einzige Mensch in dem ganzen Haufen hier.
Sie öffnete ihre Tasche. Die mußte sie vorher wegschmeißen, sonst würde sie auch von den Rädern zerrissen werden.
Den Abschiedsbrief hatte sie oben in einer Bar geschrieben, kurz nachdem Thommy zornschnaubend die Mücke gemacht hatte.
»Wenn du glaubst«, hatte er geschimpft, »daß du mit deinem ewigen Geseire über deine blöde Stiefmutter unseren Urlaub versauen kannst, bist du auf dem falschen Dampfer, Karin!«
»Dann fahr halt alleine«, hatte sie geantwortet. Da war er wortlos aufgestanden und war gegangen. Auch Thommy paßte also nun ins Bild. Er war genau wie die anderen …
Und das tat am meisten weh!
Sie faltete das Stück Papier auseinander. Drei Linien standen darauf: »Ihr wolltet es ja alle so! Na gut, ich hab es mir überlegt und tu euch den Gefallen. – Karin.«
Daneben hatte sie einen Grabstein gemalt mit einem Kreuz darauf. Und eine kleine Rose.
Das war alles. Und mußte reichen. Und tat's wohl auch.
Wieder ein Zug. Eine S-Bahn. Die nächste kam in zehn Minuten. Die nächste? Die letzte …
Sie stand auf. Sie konnte nicht gegen die Tränen an; die liefen ihr einfach so aus den Augen. Sollten sie! Auch, wenn diese Idioten sie schief ankucken.
Sie ging hinüber zur Bahnsteigkante und war stolz darauf, daß ihre Beine sie so gut trugen. Es wird nicht schwer sein, dachte sie. Ein bißchen näher mußt du ran. Noch zwei Schritte. Sie hätte jetzt ganz gern noch eine Zigarette geraucht, aber sie verkniff es sich. Und dann …
Wieder das Zittern unter den Sohlen; wieder das Grollen, das lauter und lauter wurde; wieder die Luft. Gleich kommen die Lichter … Karin zog tief den Atem ein, duckte sich ab, sprang …
Nein, sie wollte springen, doch da kam ein Stoß von der Seite, der sie taumeln ließ. Sie begriff nicht, sie schrie. Jetzt! dachte sie – jetzt!! … Dann fühlte sie, wie sie aufschlug, spürte den stechenden Schmerz im Hinterkopf. Alles wurde dunkel …
Benno Sievers bekam keine Luft. Das war das erste: Wo bloß die Luft hernehmen? Er keuchte. Die anderen Typen, die da jetzt
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