Akte Mosel
Brauchst du sonst noch was, wir fahren morgen in Urlaub?«
»Das Handy nehmen Sie bitte gleich wieder mit, das ist hier nicht erlaubt«, mischt sich der Pfleger ein. *
*
Marie will wie beim ersten Mal nicht zum Versteck mitkommen. Sie ist froh, nach der langen Radtour nach Luxemburg eine Verschnaufpause zu haben und sitzt mit dem Rücken an einen Baum gelehnt neben der Straße. Die Fahrräder liegen im Gras. Sie nimmt die Flasche aus der Halterung und setzt zu einem tiefen Schluck an.
»Oh Gott«, schreit Doris.
Marie verschluckt sich, springt auf und läuft in das Wäldchen. Dort steht Doris vor einem mächtigen Stapel Langholz.
»Was ist passiert?«
»Guck doch mal«, Doris zeigt auf die Stämme. »Die waren beim letzten Mal noch nicht da.«
»Soll das heißen, die liegen auf..?«
»Weiß ich nicht, es sieht alles ganz anders aus.« Doris läuft hin und her »Hilf mir!«
»Die Stämme wegräumen?«
»Ich bin diesen Weg hier gekommen«, Doris geht ein paar Schritte über tiefe Furchen zurück. »Und dann geradeaus bis zu einer Lärche.« Vor dem Stapel bleibt sie stehen. »Aber wie weit? Der Weg ist gar nicht mehr zu erkennen.«
»Das Holz liegt ja wohl nicht ewig da. Warte einfach, bis es abgeholt wird.«
»Wer weiß, wann das ist.« Doris dreht sich um: »Hier stehen noch alle Bäume, es muß hierher geschleppt worden sein.«
Sie klettert auf die Stämme. Marie folgt ihr: »Wie sieht eine Lärche aus.«
»Nadelbaum, ein bißchen dürrer als eine Tanne. Wenn ich eine sehe, dann zeige … da ist eine!« Doris springt vom Stapel herunter. »Und da ist auch der Stock.«
»Dann gehe ich mal lieber zu den Fahrrädern zurück, bevor sie weg sind.« Marie klettert auf der anderen Seite herunter.
Doris braucht eine Zeit, bis sie das Versteck findet. Es fehlt nicht mehr als ein Meter, und es wäre vom Holzstapel begraben worden. Sie zieht Haushaltshandschuhe aus ihrer Gürteltasche an und zählt über zehntausend Mark. Dann stopft die das restliche Geld in eine mitgebrachte Tüte, die garantiert keine Fingerabdrücke von ihr aufweist. Die alten Tüten wandern zum Geld in den Gürtel. Zuletzt verwischt sie sorgfältig alle Spuren auf dem Waldboden.
*
Vor dem Fenster tobt ein heftiges Gewitter. Der Wind bläst Hagelkörner gegen die Scheiben. Die frisch genähte Wunde, in der bis gestern noch der Schlauch steckte, klopft mit dumpfem Schmerz. Seit einer Stunde ist Walde nicht mehr auf der Intensivstation. Zum ersten Mal seit einer Woche kann er wählen, ob er lieber liest, den Fernseher einschaltet, Musik hört, telefoniert oder sich die Beine vertritt. Dennoch hat er das Gefühl, etwas zu verpassen – wie an jedem Samstagabend, an dem er nicht ausgeht. Von Anna hat er seit ihrem Besuch vor ein paar Tagen nichts mehr gehört. Jo und Marie sind in der Medoc. Die Band hat Sommerpause.
Der Regen ist so dicht, daß er nicht einmal mehr den Turm der Kapelle im Park sehen kann.
Das Bett in der Mitte des Zimmers ist leer. An der Tür hat der Bäcker den Fernseher laufen und die Ohrstöpseleingesteckt. Eine halb volle Bierflasche steht auf dem Nachttisch. Das aufgehangene Gipsbein zeigt zur Wand.
Die Musik entspannt Walde immer mehr. Es ist, als wäre dieses Zimmer von der Außenwelt isoliert. Wie eine Schutzhütte, mitten in einem Unwetter, nur sie beide. Beim Hereinkommen haben sie sich kurz begrüßt. Sein Zimmergenosse hat sich mit Klaus vorgestellt, Walde hat ebenfalls seinen Vornamen genannt. Von Erkennen keine Spur. Beim Zusammenstoß trug Klaus einen Helm und konnte Walde, der von der Seite kam, nicht sehen.
Do it again läuft, er hört dieses Stück im gleichen Zimmer, in dem wahrscheinlich der Mann liegt, hinter dem er seit vielen Jahren her ist. Das Untersuchungsergebnis der Geräte aus dem Werkzeugkasten steht immer noch aus.
Er denkt an Jean Felgen, emeritierter Psychologieprofessor, erfahrener Gerichtsgutachter und eine Art Vorläufer der heutigen Profiler. Noch vor wenigen Wochen berichtete er im Rahmen einer Tagung an der Trierer Universität über seine jahrzehntelange Erfahrung mit pädophilen Tätern. Der Vortrag enthielt ein paar Thesen, die den zur Zeit allerorts geläufigen Rufen nach verschärften Strafen entgegen liefen. Erst schilderte Felgen in seinem charakteristischen luxemburgischen Akzent seine persönlichen Eindrücke. Nie habe er einen glücklichen Triebtäter kennengelernt, vielmehr habe es sich immer um sehr unglückliche und oft auch isolierte Menschen gehandelt. Diese Leute
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