Akte X
habe einen falschen Abzweig eingeschlagen. Weder Vladimir noch Cassandra Rubicon konnten weiter als bis zu dieser Stelle gekommen sein – doch dann sah er eine Öffnung, die durch das Geröll gegraben worden war, ein schmales Fenster, durch das sich nur eine sehr schlanke Person zwängen könnte.
Er kroch zum Rand des Lochs und kam sich dabei wie ein Eindringling vor. Der Tempel um ihn her verschlang alle Geräusche und alle Wärme. Mulders Lichtstrahl stach in die finstere Öffnung.
Mühsam balancierend richtete er sich auf dem Geröllhaufen auf und schob die Taschenlampe vor sich her, um hineinzuschauen. »Cassandra Rubicon?« rief er, obwohl er sich albern dabei vorkam. »Sind Sie da drinnen?«
Was er in der verborgenen Kammer sah, setzte ihn in Erstaunen. Sein Lichtstrahl wanderte über glatte Wände und fiel auf Metall und geschwungene Gegenstände aus Glas oder Kristall.
Mulder sauste das Blut in den Ohren, uralte Entdeckerinstinkte regten sich in seiner Brust. Was war das? Was mußte Cassandra gedacht haben, als sie diesen überraschenden Wechsel in der Architektur zum ersten Mal erblickte?
Während in seinem Kopf Visionen von Kukulkan tanzten, versuchte Mulder, tiefer in die Kammer hineinzuspähen, doch, seine Taschenlampe begann zu flackern. Er schüttelte sie, um die Batterien in Kontakt zu halten und den Strahl zu stabilisieren.
Ich werde zu dieser Stelle zurückkehren, sobald wir Dr. Rubicon gefunden haben, dachte Mulder. Vielleicht hatte der alte Archäologe eine Erklärung parat. Freilich würde es einige Mühe erfordern, die Öffnung so zu erweitern, daß auch ausgewachsene Männer hindurchkriechen konnten.
Dann... hörte Mulder eine Stimme aus der Ferne und erstarrte. Die Worte tanzten durch die gewundenen Gänge des Tempels. Ihm blieb keine Zeit, über die Akustik zu staunen, als er Scullys schwache Stimme erkannte, die seinen Namen rief.
In ihrer Stimme lag eine Dringlichkeit, die ihn sofort in Bewegung setzte: er rutschte den Geröllhang hinunter und sprintete durch die Korridore, in der Hoffnung, daß er die Abzweigungen richtig in Erinnerung hatte. Den Lichtstrahl seiner Taschenlampe hielt er vor sich gerichtet – die Batterien schienen wieder einwandfrei zu funktionieren, seit er sich vom Herzen der Pyramide entfernt hatte.
Immer wieder rief sie seinen Namen. Er hörte die Anspannung in ihrer Stimme und rannte schneller. »Mulder, ich habe ihn gefunden! Mulder!« Ihre Worte hallten zwischen den steinernen Mauern, und endlich sah er das Sonnenlicht vor sich... und Scully, die in der Öffnung stand, eine menschliche Silhouette, umgeben von gleißendem Licht.
Keuchend und mit rasendem Puls stürmte er hinaus ins Tageslicht.
Sie sah verzweifelt aus. »Dort drüben!«
Er war zu sehr außer Atem, um ihr Fragen zu stellen, und folgte ihr statt dessen einfach. Sie liefen um die Basis der Pyramide herum, den schmalen Dschungelpfad entlang und erreichten die teilweise eingestürzte Plattform, wo einst die Opfer für den Brunnen dargebracht worden waren.
Mulder blieb abrupt stehen und starrte auf das trübe, unermeßlich tiefe Wasser. Scully stoppte neben ihm und schluckte schwer. Sie bekam keinen Ton heraus.
Wie eine Puppe, die jemand verdreht, zerbrochen und weggeworfen hatte, schwamm ein Menschenkörper in der Opfercenote. Es war Vladimir Rubicon.
22
Ruinen von Xitaclan Dienstag, 11.14 Uhr
Sie verankerten Seile an den kräftigen Bäumen nahe dem Rand der Cenote und ließen sie ins Wasser hinabfallen. Mit finsteren Mienen und leicht unentschlossen umstanden sie den gähnenden Schlund, der den alten Mann verschlungen hatte.
Fernando Aguilar bot die Hilfe seiner Indios an und deutete an, daß es für zwei oder drei der drahtigen Einheimischen ein leichtes wäre, an den Seilen hinabzuklettern und Vladimir Rubicon herauszuholen. Doch Mulder lehnte ab. Dies war etwas, das er selbst tun mußte.
Wortlos half ihm Scully, aus dem Seil eine Schlaufe unter seinen Armen hindurch und um seine Schultern zu schlingen; sie zerrte die Knoten fest und überprüfte, ob sie sicher waren. Mulder ergriff das Seil, ließ sich über den Rand hinab und stemmte seine Füße gegen die rauhen Wände des Kalksteinschachtes. Die Wand war voller Felszacken, Zerklüftungen und Spalten, und Mulder schwankte von den Vorsprüngen weg, baumelte hin und her, während die Indios ihn hinabließen.
Oben auf dem Rand stand Fernando Aguilar dicht neben Scully, bellte Anweisungen und beschimpfte die Indios, wenn sie sich nicht bewegten,
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