Akte X
eine Rasur.
»Helfen Sie uns nur, sie zur Plaza zu bringen«, hatte Scully angeordnet. »Allein schaffen die das nicht mehr.«
Als sie schließlich die schwammigen Körper um die hohe Pyramide herum geschleppt und auf die offene Plaza in der Nähe des Camps gelegt hatten, blickte sich Aguilar wiederholt um und schluckte mit wild ruckendem Adamsapfel, als müsse er einen Brechreiz unterdrücken. Endlich räusperte er sich. »Ich fürchte, ich muß mich übergeben, wenn ich noch länger hierbleibe«, preßte er entschuldigend hervor und stolperte davon. »Dieser fürchterliche Gestank...«
Die gesamte Mannschaft der Indios war bereits unter so großem Geschrei in den Dschungel geflohen, daß Scully Zweifel hatte, ob sie je zurückkommen würden. Sie fragte sich, ob die Indios ein Dorf in der Nähe hatten oder nur einen Platz, wo sie sich im Schutz der Bäume zusammenkauern konnten... wo sie einander blutrünstige Geschichten erzählen und sich ihre eigenen Finger abschneiden konnten.
»Sehen Sie nach, ob Sie unseren Fanclub wiederfinden können, Aguilar«, rief Mulder dem Expeditionsleiter nach, als dieser sich entfernte. »Wir werden die Helfer brauchen, um hier wieder rauszukommen. Jetzt, wo wir unsere Vermißten gefunden haben, können wir gehen.«
»Ja, Señor«, gab Aguilar zurück. »Ich komme zurück, so schnell ich kann, und, äh...« Er scharrte mit den Füßen. »Ich gratuliere Ihnen, daß Sie Ihre Leute gefunden haben... obwohl es mir leid tut, daß es so gekommen ist, eh? Genau wie der alte Mann.« Er eilte davon und verschwand mit flatterndem Pferdeschwanz auf einem von Farnen gesäumten Pfad.
Im Spätnachmittagslicht trat Mulder unruhig von einem Bein aufs andere, starrte zu den stillen Tempeln und überwucherten Ruinen hinüber und lauschte den gedämpften Lauten des Dschungels. Er hielt die Augen offen, ob sich irgendwo etwas Verdächtiges regte, während Scully ihre ganze Aufmerksamkeit den vier Wasserleichen widmete, die neben der Vladimir Rubicons lagen. Neben den aufgetriebenen Körpern wirkte der Leichnam des alten Archäologen wie der eines rüstigen Rentners, der friedlich im Schlaf gestorben war.
»Da die Zahl der möglichen Kandidaten begrenzt ist«, sagte Scully und bemühte sich um einen sachlichen Tonfall, »wird es einigermaßen leicht sein, die vier Leichen zu identifizieren.«
Sie hatte die Dossiers aus ihrem Rucksack geholt und studierte die Blätter, betrachtete die Fotos: Bilder von lächelnden jungen Studenten, die ihren ganzen Ehrgeiz darein gesetzt hatten, sich auf einem obskuren Fachgebiet einen Namen zu machen. Das Team war zu einem harmlosen Abenteuer nach Yucatan aufgebrochen, in der Erwartung, daß die Zukunft ihnen Gastauftritte in Talkshows oder Diavorträge an Universitäten im In- und Ausland bringen würde.
Statt dessen hatten sie den Tod gefunden.
Scully musterte die Fotos und die Vergleichsdaten für die Identifizierung. Sie begutachtete die Haarfarbe, die Körpergröße, den allgemeinen Knochenbau. Nach dem langen Aufenthalt im Wasser und der einsetzenden Verwesung waren ihre gutaussehenden Gesichtszüge nicht mehr zu erkennen.
»Der Dunkelhaarige hier ist Kelly Rowan«, schloß Scully. »Er war der Größte in der Gruppe und ihr stellvertretender Leiter, leicht zu identifizieren.«
Mulder hockte sich neben sie. »Dies hätte einer seiner glorreichsten Erfolge werden sollen«, sagte er langsam, als er die entstellten Züge des jungen Mannes betrachtete. »Dr. Rubicon sagte, er sei ein talentierter Wissenschaftler mit einer großen Begabung für die Archäologie gewesen, ein guter Partner für Cassandra.«
Scully schwieg. In Situationen wie dieser... wenn sie Autopsien vornahm und Leichen identifizierte, kam sie am besten zurecht, wenn sie den Teil ihres Verstandes hinter Schloß und Riegel hielt, der diese Gestalten... diese Objekte... als wirkliche Menschen betrachtete. Im Augenblick mußte sie professionell zu Werke gehen, trotz der primitiven Bedingungen.
»Der zweite Mann ist John Forbin«, fuhr Scully fort und trat zu dem nächsten Toten. »Er war der Jüngste der Gruppe – Sie sehen es ihm noch an. Im ersten Jahr des Hauptstudiums. Ein Architekt mit einem Spezialinteresse für große, antike Bauwerke.«
Traurig schüttelte Mulder den Kopf. »Er muß sich hier wie im Schlaraffenland gefühlt haben – mit all diesen unberührten Tempeln, die er studieren konnte.«
Scully blieb stur bei ihrer Aufgabe, die Leichen zu identifizieren. »Diese junge Frau ist
Weitere Kostenlose Bücher