Akte X
fünfzehn Jahren gestorben, und nach dem, was Kyle uns erzählt hat, hat er die Geheimnisse seines Experiments mit ins Grab genommen.«
Mulder hatte nicht die Absicht, den Äußerungen Kyles unbesehen Glauben zu schenken. Paladin mochte vor Jahren gestorben sein, aber sein Experiment war mehr als nur Geschichte. Es hatte irgend etwas mit dem Stan-ton-Fall zu tun. »Und was ist mit dem roten Puder? Und der Verbindung zu John Doe?«
»Ich halte Kyles Aussage für ziemlich überzeugend. Es könnte aus einer Lieferung medizinischer Produkte stammen. Ob es eine Verbindung zu unserem John Doe gibt, ist schließlich noch nicht bewiesen.«
Mulder drehte den Zündschlüssel, und der Motor sprang an. »Fibrol hat etwas mit der Sache zu tun. Die Ultraschallbilder lügen schließlich nicht. Stanton war ein weiteres Opfer von Emile Paladins Transplantationsexperiment. Und wenn Kyle uns nicht erzählen kann, wie das möglich ist, dann müssen wir eben jemanden finden, der das kann.«
Er sah Scully an, dass ihre Gedanken in die gleiche Richtung führten. Als sie von dem Wachmann am ersten Tor des Parkplatzes durchgewunken wurden, erzählte sie ihm, was in ihrem Kopf vorging. »Andrew Paladin. Der Einsiedler-Bruder. Er könnte die letzte Person sein, die Emile Paladin vor seinem Tod gesprochen hat.«
Mulder nickte, während er im Rückspiegel beobachtete, wie der kastenförmige Komplex rasch kleiner wurde. Sie konnten Wochen und Monate auf den Versuch verschwenden, die nichtssagende Fassade von Fibrol zu durchbrechen; aber Mulder hatte das sichere Gefühl, dass die Antworten, die sie suchten, am anderen Ende der Welt zu finden waren.
Kapitel 13
Als Julian Kyle wieder allein war, legte er beide Hände auf die beruhigend kühle Glasplatte des Schreibtischs und starrte auf die Ledercouch auf der anderen Seite des Zimmers. Er fragte sich, wie viele Millionen Hautschuppen in den mikroskopischen Schluchten des Leders zurückgeblieben sein mochten, wie viele Millionen unendlich kleiner zellularer Hinterlassenschaften der FBI-Agenten in der unsichtbaren Luftströmung trieben. Er dachte an Agent Mulders dunkle, intelligente Augen und an Scullys feste, scharfe Stimme. Er dachte an die Fragen, die sie gestellt hatten - und an die Reaktionen auf seine Antworten.
Kyle hielt sich für einen guten Menschenkenner, doch diese beiden Agenten waren ihm ein Rätsel. Ihr ganzes Erscheinungsbild irritierte ihn. In keinerlei Hinsicht ähnelten sie den Schreibtischhengsten aus den Sicherheitsdiensten, mit denen es Kyle so oft in seiner Karriere zu tun gehabt hatte. Sie waren anders . . . gewitzter, und sie würden nicht so schnell aufgeben.
Mehrere Sekunden verharrte Kyle völlig regungslos, dann griff er unter seinen Schreibtisch und drückte den kleinen Knopf, der direkt über seinen Knien angebracht war. Ein paar Momente später glitt die Tür zu seinem Büro auf.
Er verfolgte, wie der hochgewachsene junge Mann mit den glatt nach hinten gekämmten Haaren hereinschlüpfte, sich auf die Couch fallen ließ und die langen Beine lässig über eine der Armlehnen schwang. Die schmalen Augen des Jungen wanderten amüsiert zu der zersplitterten Vitrine neben dem Schreibtisch, und ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. »Einen schlechten Tag gehabt, Onkel Julian?«
Als er den schweren Thai-Akzent des Jungen hörte, schnitt Kyle eine Grimasse. Er haßte diese künstliche Vertrautheit. Er hatte den jungen Mann aufwachsen sehen, doch glücklicherweise gab es keine Blutsbande zwischen ihnen. Kyle hielt sich selbst für einen gläubigen Mann mit festen moralischen Prinzipien, und dieser Junge war das genaue Gegenteil. Er war verdreht. Pervertiert. Gefährlich. Er hat alle Fehler seines Vaters - aber keine seiner Tugenden.
»Wir haben ein Problem«, erwiderte Kyle so knapp wie möglich. »Die Lage ist noch immer nicht unter Kontrolle.«
Der Junge zog eine Braue hoch. Dann streckte er scheinbar gelangweilt die Arme über den Kopf, und Kyle konnte das Spiel der kräftigen Muskeln unter der karamelfarbenen Haut deutlich sehen. Unwillkürlich fröstelte er. Er hatte in Vietnam gekämpft, hatte viele gefährliche Männer kennengelernt, doch dieser Junge machte ihm angst. Er wusste, mit wieviel teuflischem Vergnügen er seine Arbeit tat; er ahnte, mit welcher ungezügelten, fast sexuellen Lust er seine lautlosen Gewalttaten beging. Seit Jahren beobachtete er, wie immer neue Opfer den perversen Appetit des schmalen Burschen stillen mussten - und wie
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