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Akunin, Boris - Pelagia 01

Akunin, Boris - Pelagia 01

Titel: Akunin, Boris - Pelagia 01 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelagia und die weissen Hunde
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verwirrt.
    Naina reckte herausfordernd das fein gemeißelte Kinn.
    »Nein, Sie haben es doch gehört. Die Anspielung ist deutlich. Außer Miss Wrigley ist hier nur noch eine Frau – ich.«
    »Und Tatjana Sotowna, die ist wohl keine Frau?«, sagte Pjotr, er fühlte sich für seine Dulcinea beleidigt, begriff aber sofort, dass sein Eintreten nicht ganz glücklich war, und wurde verlegen. »Ach, verzeihen Sie, Tanja, damit wollte ich nicht sagen . . .«
    Er besann sich und ging wie ein wütender Hahn auf die Nonne los.
    »Was für ein Quatsch! Hysterie! Woher wollen Sie wissen, dass es eine Frau war? Sie hatten wohl eine Offenbarung, was?«
    Tichon Selig, der Pelagia wohl noch immer nicht seine Verbannung in den Seitenflügel verziehen hatte, tat eine angebrachte Äußerung:
    »Der Narren Mund speit eitel Narrheit.«
    Er blickte, Unterstützung heischend, zu Bubenzow, aber der sah ihn gar nicht an, sondern musterte die Nonne, anders als bisher, mit sichtlichem Interesse. Er benahm sich überhaupt sonderbar: Gewöhnlich in Gesellschaft große Reden schwingend und andere nicht zu Wort kommen lassend, hatte er hier den ganzen Abend noch nicht den Mund aufgetan.
    »Eine Offenbarung gab es nicht«, antwortete Pelagia ruhig, »ihrer bedarf es auch nicht, wenn ein gewöhnlicher Menschenverstand es tut. Als es heute hell wurde, bin ich hin zu der Stelle, wo Sakussai gestern erschlagen wurde, Der Erdboden dort war ganz zertrampelt, jemand war ziemlich lange um die Stelle herumgegangen. Neben der Mulde in der Erde, wo der Stein gelegen hatte, war die Spur des rechten Fußes tiefer eingedrückt. Eine ebensolche Spur gab es da, wo der Täter sich gebückt hatte, um den Welpen auf den Kopf zu schlagen. Ein Damenschuh mit Absatz. Solche Schuhe tragen im Hause nur zwei Personen – Miss Wrigley und Naina Georgijewna.« Pelagia entnahm ihrer Gürteltasche ein Blatt Papier mit dem gezeichneten Umriss einer Schuhsohle. »Dies ist die Spur, der Fuß misst neuneinhalb Zoll. Das lässt sich nachprüfen.«
    »Mein Fuß misst nicht neuneinhalb, sondern elf Zoll«, rief erschrocken Miss Wrigley, die sich schon zum zweiten Mal an diesem Abend verdächtigt sah. »Da, schauen Sie her.«
    Die Engländerin hob den Schnürschuh hoch, aber niemand sah hin – alle stürzten zu Naina, um sie von Pelagia wegzuziehen.
    Die exaltierte junge Frau hatte die Nonne am Kragen gepackt, schüttelte sie und schrie:
    »Hast es ausgeschnüffelt, ausspioniert, du schwarze Maus! Ja, ich hab’s getan, ich war’s! Aber warum, das geht keinen was an!«
    Die Brille flog zu Boden, krachend zerriss Stoff, und als Naina endlich loslassen musste, war auf der Wange der Nonne ein blutiger Kratzer zu sehen.
    Und nun begann ein Gebrüll, wie Pelagia es vorausgesehen hatte.
    Nainas Bruder Pjotr lachte unsicher.
    »Nein, Naina, nein. Warum beschuldigst du dich? Willst du wieder originell sein?«
    Am lautesten schrie Schirjajew, Qual in der Stimme:
    »Aber warum, Naina? Das ist doch schrecklich! Gemein!«
    »Schrecklich? Gemein? Es gibt Grenzen, jenseits derer Schrecklichkeit und Gemeinheit nicht mehr existieren!«
    In ihrem lodernden Blick war nicht ein Schatten von Schuldbewusstsein, Reue oder wenigstens Scham, da war nur Ekstase und ein seltsamer Triumph. Man kann sogar sagen, dass ihr Aussehen in diesem Moment etwas Majestätisches hatte.
    »Bravo! Ich weiß! › Macbeth ‹ , zweiter Akt, ich glaube, auch zweite Szene.« Arkadi Poggio tat, als wolle er applaudieren. »Wie Lady Macbeth: › Meine Hände sind blutig, wie die deinen; doch ich schäme mich, dass mein Herz so weiß ist. ‹ (Übersetzung: Dorothea Tieck.) Das Publikum rast, die ganze Bühne liegt voller Blumensträuße. Bravo!«
    »Jämmerlicher Narr, unbegabter Pinselschwinger!«, zischte das gefährliche Fräulein. »Aus der Kunst hat man Sie vertrieben, und Ihr hölzerner Kasten wird Sie nicht retten. Nicht lange, dann wird jeder, der nicht zu faul ist, ein Photograph sein, und dann haben Sie nur noch eine Möglichkeit – auf dem Jahrmarkt lebendige Bilder vorzuführen!«
    Pjotr nahm seine Schwester bei der Hand.
    »Naina, Naina, besinn dich! Du bist außer dir, ich werde den Arzt rufen.«
    Im nächsten Moment wäre er von einem heftigen Stoß beinahe zu Boden gestürzt, und der Zorn der wütenden Furie ergoss sich über ihren Bruder:
    »Pjotr, mein herzliebstes Brüderchen! Erlaucht! Du verziehst das Gesicht? Du magst nicht mit › Erlaucht ‹ angeredet werden? Du bist ja unser Demokrat, du machst dir

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