Alanna - Das Lied der Loewin
noch eine Sekunde zuvor leer gewesen war, reichte er ihr einen reich geschliffenen Stein. Als sie ihn regungslos anstarrte, legte er ihn ihr auf die Brust.
Was soll denn ich mit einem Juwel anfangen? Langsam verschwammen seine Umrisse.
»Bist du einer der Götter?«, fragte sie, während er zu verblassen begann. Plötzlich gab es unzählige Dinge, die sie von ihm wissen wollte.
Nein. Ich war schon vorher da. Deine Götter sind Kinder von mir und meinen Gefährten.
Alanna sah den Affen kaum noch; die Luft wurde merklich kühler. Sie rappelte sich hoch. »Wer bist du dann?«
Ich bin dieser Ort und dieses Gebirge. Ich bin ein Elementargeist, könnte man sagen. Jetzt begann auch seine Stimme zu verklingen.
»Wie kamst du zu diesem Juwel?« Sie zog mühsam ihre Kleidung über. Den Schmerz in ihren Händen versuchte sie zu ignorieren, das Juwel steckte sie in eine Tasche.
Von Zeit zu Zeit findet es den Weg zu mir. Nicht oft, doch hie und da. Ich habe es geschaffen und ich behalte es, weil ich Gesellschaft mag. Dein Besuch wird mir noch für Jahrhunderte eurer Menschenzeit Unterhaltung bieten. Ihr seid recht interessant, ihr Sterblichen.
Sie spürte ihn überhaupt nicht mehr, als sie sich fertig angezogen hatte. Aber vielleicht war das ganz gut so. Ob ihr der Gedanke, irgendwem als »Unterhaltung« zu dienen, gefiel, wusste sie nicht – selbst wenn es ein Elementargeist war.
Sie fand zur Höhlenöffnung, sah hinaus und hielt sich dabei am Rand fest. Der Morgen brach an, aber sie war nicht in der Lage zum Gasthaus zurückzukehren.
»Kein Wunder, dass er mir das Juwel gab«, murmelte sie, ließ sich zu Boden gleiten und setzte sich. »Ich werde so oder so hier sterben.« Eigentlich hätte sie dieser Gedanke erschrecken müssen, aber er tat es nicht. Ihre Augenlider wurden schwer, die Kälte spürte sie kaum. Sie zog ihren Umhang übers Gesicht und schlief ein.
Sie war warm – überall, nicht nur stellenweise. Es roch nach sauberen Laken und Kräutersalben. Wie lange war ich bewusstlos?, überlegte sie und zwang sich, die Augen aufzuschlagen.
»Nie wieder.« Ihre eigene Stimme klang rau in ihren Ohren. »In dieser Kälte verbringe ich keinen Winter mehr.« Ihre Augen tränten, als sie versuchte, sich umzusehen.
»Fast hättest du mich reingelegt.« Das war Liams tiefe Stimme. »Wenn man sich anschaut, was du da unternommen hast, könnte man meinen, du wärst ganz wild darauf zu erfrieren.«
Sie seufzte. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. Langsam wurde ihr Blick klarer. Es überraschte sie nicht, dass seine Augen smaragdgrün waren.
»Leid tut es dir?« Seine Stimme kippte fast bei dieser Frage.
»Es tut mir leid, dass ich hinausmusste in diesen Schneesturm. Ich hatte keine andere Wahl – weißt du noch?«
»Du hast mich von deinem götterverfluchten Kater behexen lassen.«
Bei dem Versuch sich aufzusetzen, zuckte Alanna zusammen. Ihre mit dicken Binden umwickelten Hände klopften unter ihrem Gewicht. »Eisenarm, hör auf! Kommt es nie vor, dass du eigenmächtig handelst?«
»Das ist etwas anderes.«
»Unsinn, ist es nicht! Leuten wie uns muss klar sein, wann
es notwendig wird, die Regeln außer Acht zu lassen. Jetzt war es soweit und es war richtig, dass ich es tat. Es tut mir ehrlich leid, wenn ich dich gekränkt habe. Chitral ließ mir keine andere Wahl.«
Liam ging hinaus, ohne sie anzusehen.
Ein paar Minuten später kam Thayet mit einem Krug heißen Mosts, gefolgt von einer Dienstmagd mit einem Essenstablett. Alannas Magen knurrte zur Begrüßung. Thayet, die die Tränenspuren auf Alannas Gesicht entdeckte, sagte: »Der Drache wird sich wieder beruhigen.« Dann schenkte sie einen Becher Most ein und half Alanna zu trinken. »Er hat Todesängste ausgestanden wegen dir – so wie wir alle.«
»Das Juwel!« Alanna wollte nicht über Liam reden. »Wo ist es?«
»Unter deinem Kissen. Kannst du einen Löffel halten?«
Alanna warf einen Blick auf den mit getrockneten Früchten und Rahm versetzten Haferbrei. »Ich tu’s, und wenn es mich umbringt.«
Aber sie konnte es nicht. Thayet überhörte ihren Protest und fütterte sie. »Du hast fast eine Woche geschlafen«, sagte die Prinzessin, während sie ihrer Patientin Brei in den Mund löffelte. »Der Sturm war vorüber, als wir erwachten. Hat er sich gelegt, während du da draußen warst?« Alanna nickte. Thayet fuhr fort: »Anschließend bebte die Erde, wie bei einem kleinen Erdstoß. Gleich nach der Morgendämmerung. Hinterher war der Pass
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