Alanna - Das Lied der Loewin
Sie war sehr müde. Ein Nickerchen ...
Gewaltsam schüttelte sie den Bann der Kälte ab und ging auf den Berghang zu. Sie machte nur Halt, um die Schneeschuhe zu lösen und sie auf den Rücken zu schnallen. Jetzt
stieg wieder Wut in ihr hoch – diesmal nicht auf Liam, sondern auf Chitral. »Ich soll dir wohl als Unterhaltung dienen?« , schrie sie, während sie in die Felsen kletterte. »Da, wo ich herkomme, gilt es als ehrenhaft, ein Opfer auf der Stelle zu töten und nicht erst damit zu spielen!«
Keine Antwort. Doch sie wollte auch keine. Sie brauchte lediglich die Hitze ihrer Wut. Als sie durch die gefrorene Schneedecke brach und ihr Bein zwischen zwei Felsen stecken blieb, stieß sie einen Schrei aus, dann nahm sie die Eisklinge ihrer Axt zu Hilfe und zog sich vorsichtig auf festen Grund und Boden. Das Bein pochte, als sie es belastete, gab aber nicht unter ihrem Gewicht nach.
»Macht es dir Spaß, Chitral?« Keine Antwort. Sie kletterte weiter.
Ein paar Fuß entfernt glitt ihr Stock auf einem verborgenen Eisfleck aus, sie stürzte auf die Knie und zerbiss sich die Unterlippe. Sie nahm eine Handvoll Schnee und presste ihn über ihrer Maske auf den blutenden Mund. Auch diese Verletzung schrieb sie Chitral zu, sie rappelte sich wieder hoch und ging weiter. Dass sie sich so häufig verletzte, lag zweifellos daran, dass ihre Aufmerksamkeit durch Müdigkeit und Nervosität getrübt war. Das Beste wäre es gewesen, haltzumachen und eine halbe Stunde zu rasten, aber sie wagte es nicht. Stattdessen begann sie noch mal »Der unermüdliche Bettler« zu singen. Sie war mit dem Lied zu Ende und hatte auch die Hälfte von »Des Königs neue Dame« hinter sich gebracht, als sie in die Höhle stolperte.
Ihre Gabe flackerte, verlosch und hinterließ nur noch eine kleine Spur von Glut. Sie war aufgebraucht.
Der Heimweg wird sehr spannend werden, sagte sich Alanna, während sie sich umsah. Hinter dem kleinen Vorraum lag
eine größere Höhle. Dorthin ging sie nun. Hier in einer großen Halle mit Wänden, die ein trübes, gespenstisches Gelb ausstrahlten, endete Chitrals Lichtspur. Am anderen Ende war ein Tunnel.
»Also gut, Chitral!«, schrie sie, während sie ihre Gesichtsmaske herunterzerrte. »Ich bin da!«
Dann bereite dich vor zum Kampf, lautete die Antwort, die ihr in die Glieder fuhr. Du hast etwas gefordert, wogegen du Kämpfen kannst. Du sollst es haben.
Die Luft in der Höhle war kühl, aber nicht kalt. Sie streifte ihre warmen Sachen ab bis zu der Schicht aus wollener Kleidung und häufte sie auf den Höhlenboden. Dabei machte sie eine sorgfältige Bestandsaufnahme, was ihre körperliche Verfassung betraf. Sie war nicht glücklich mit dem Ergebnis. In einem so schlechten Zustand hatte sie sich noch nie auf einen Kampf eingelassen.
Da ist nichts zu machen, dachte sie, während sie Blitz aus der Scheide zog und ihre Arme lockerte. Wenn ich nächstes Mal Jagd auf etwas mache, liegt es hoffentlich in einer staubigen Ecke, wo es keiner sieht und wo es keinen stört, wenn ich es mir nehme. Das hier habe ich mir selbst eingebrockt.
Etwas kam durch den Tunnel auf sie zugetapst. Alanna ging zur Mitte der Höhle und machte sich bereit.
Als es ins Licht trat, wurde ihr augenblicklich klar, dass es Chitral war, der diese Gestalt angenommen hatte. Sie hatte keine Ahnung, warum sie das wusste, aber sie hatte keinerlei Zweifel. Er kam als einer der riesigen Felsenaffen, die das Dach der Welt bewohnten. Man sah sie nur selten, denn sie waren unglaublich scheu. Und niemals trugen sie ein Kurzschwert wie dieser Affe. Die Klinge des Schwerts bestand aus schwarzem Metall und war äußerst primitiv. Aber für
die Arbeit, für die sie gedacht war, taugte sie, da war Alanna sicher. Der Blick, den ihr das Tier aus seinen tief liegenden Augen zuwarf, verriet hohe Intelligenz. O ihr Götter, dachte sie, als der Affe kampfbereit vor ihr Stellung bezog. Jetzt kann ich was erleben.
Er – es? – holte aus, schlug zu und zwang sie zurück. Sie bewegte sich langsam, mit noch müden Muskeln. Da hieb er schon wieder auf sie ein; doch sie parierte und stieß ebenfalls zu, sodass der Affe einen Satz beiseite machte. Eleganz und Kunstfertigkeit wie bei den Kämpfen, die sie zum Beispiel mit Herzog Gareth ausfocht, waren jetzt nicht gefragt. Wichtig war nur am Leben zu bleiben. Wenigstens hörten mit dem Wissen um den bevorstehenden Kampf ihre erschöpften Glieder endlich zu zittern auf. Der Affe stürzte auf sie zu und schlug mit dem
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