Alanna - Das Lied der Loewin
Drache besäße – einer, gegen den ich kämpfen kann!
Sie half sich, indem sie Lieder sang, während sie sich vorwärtskämpfte. Zuerst sang sie die, die ihr die Mithran-Priester im Palast beigebracht hatten. Als sie damit fertig war, begann sie mit denen, die sie von den Soldaten, den Dieben und den Pferdeknechten kannte. Nach der Hälfte von »Der unermüdliche Bettler«, dem Lied, mit dem sich Coram in Berat fast Schwierigkeiten eingehandelt hätte, versagte ihr die Stimme. Sie hielt an, um zu rasten. Wie weit mochte sie wohl gekommen sein?
Ihre innere Uhr sagte ihr, dass sie fast zwei Stunden unterwegs war. Es würde also noch ein paar Stunden dauern, bis es hell wurde. Der Gastwirt hatte gesagt, es sei ein zweistündiger, zügiger Fußmarsch von seiner Haustür bis zur Spitze des Passes. Aber bei diesen Witterungsverhältnissen würde sie möglicherweise einen ganzen Tag dafür brauchen, das war Alanna klar.
Ob ich das Juwel wohl spüren kann? Sie fühlte nach ihrer Gabe und erschrak. Während sie sich darauf konzentriert hatte vorwärtszukommen, hatte sie ihre Gabe in dem Versuch, sich warm zu halten, erschöpft. Sie war auf ein gefährlich niedriges Maß abgesunken, flackerte nur noch und verbrannte
sich im Kampf gegen den tödlichen Frost. Umkehren konnte Alanna nicht – die Gabe wäre aufgebraucht, noch bevor sie den Baum erreichte, ganz zu schweigen vom Tal. Alanna ging weiter. Ironisch lächelnd dachte sie, dass sie Liam nicht einmal einen Vorwurf machen konnte, wenn er ihr diese Kletterpartie verboten hatte. Aber sie war eine erwachsene Frau. Der einzige Mensch, der letzten Endes entscheiden konnte, was sie tun sollte und was nicht, war sie selbst.
Das habe ich also davon, dass ich die Beherrschung verlor. Geschieht mir ganz recht, sagte sie sich. Sorgfältig begann sie, die Bereiche, die ihr wärmender Zauber schützte, einzuschränken, bis er nur noch an den Füßen, den Händen und im Gesicht wirksam war. Sie versuchte, die eisige Kälte zu ignorieren, die jetzt umso stärker in alle übrigen Körperteile drang, und kämpfte sich wieder durch den Wind.
Alanna brauchte fünf Minuten, bevor sie merkte, dass sich der Wind gelegt hatte. Sie blieb stehen und hob den Kopf. Nur noch dahintreibende Flocken waren vom Schneesturm übrig. Sie schob ihre Schutzbrille hoch und drehte sich um, weil sie die Spuren sehen wollte, die sie hinterlassen hatte. Gespenstisch gerade erstreckten sie sich hinter ihr, so weit sie sehen konnte. Eine Kälte, die nicht vom Winter kam, kroch ihr am Rückgrat empor. Eigentlich hätte ihre Spur im Schnee im Zickzack verlaufen müssen, doch sie sah aus, als hätte sie einer mit dem Lineal gezogen. »Ich weiß gar nicht, ob es gut ist, dass kein Wind mehr bläst«, murmelte sie. »Bisher wusste ich wenigstens, in welche Richtung ich gehen muss.« Nach einem weiteren Blick zurück zu den Spuren zuckte Alanna die Achseln und machte sich wieder auf den Weg. Jetzt, wo die Flamme ihrer Gabe niedriger und niedriger
brannte, war es sehr wichtig, dass sie in Bewegung blieb. Alle paar Fuß sah sie nach hinten, um sich zu überzeugen, dass sie die Richtung beibehielt. Vor ihr öffnete sich der Pass, gesäumt von weißen und glatten Wänden neben dem Weg. Am Himmel brach die Wolkendecke auf und gab den Blick auf eine dünne Neumondsichel frei. Es war eine sehr stille Nacht; nur rutschender Schnee war zu hören und das Knacken von Felsen.
Plötzlich erklang in ihr eine Stimme, die auf ihre Art so furchtbar war wie die der Göttin. Stürzende Felsbrocken und rauschende Bäche lagen darin. Sie fiel auf die Knie und presste die Hände auf die Ohren, doch es nutzte nichts.
Also hast du es bis hierher geschafft. Du hast dir Zeit gelassen.
Alanna brachte keine Antwort zustande.
Sieh nach links.
Sie gehorchte. Eine Lichtspur erstreckte sich über die seitliche Wand des Passes hinauf, über auseinandergebrochene Felsblöcke und Seen aus Schnee und Eis hinweg. Das, wofür du kamst, ist am Ende dieses Weges – genau wie ich.
Die Stimme – es musste die Stimme des Wesens sein, das Mi-chi »alter Chitral« nannte – war verstummt. Einen Augenblick lang lauschte Alanna beklommen, dann fiel ihr die Gefahr ein, die die Kälte in sich barg; also rappelte sie sich wieder auf, holte tief Luft und drehte dem glatten Weg, der so einladend vor ihr lag, den Rücken zu. Sie verstärkte den Zauber an Händen und Füßen, nahm ihn von ihrem Gesicht und überlegte, wie lange er noch reichen mochte.
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