Alanna - Das Lied der Loewin
sich doch nicht. Die knapp bemessene Freizeit, die den Knappen, Alanna und Jonathan verblieb, verbrachten sie zusammen. Doch im Unterricht, den sie gemeinsam mit den anderen Pagen hatte, vermisste sie ihre Freunde. Es gab keinen Gary mehr, der im Benimmunterricht freche Witze riss, und keinen Alex, der ihr die Tücken in Mathe erklärte.
Doch eines Abends kam Jonathan mit seinem Buch über
die Kriegsgeschichte in ihr Zimmer. Er sei gern bereit ihr mit Mathe zu helfen, wenn sie ihm dafür erklärte, wie die Schlachten, die im Buch so langweilig beschrieben waren, abgelaufen waren, erklärte er grinsend. Er hatte im Unterricht bemerkt, wie real und spannend sie ihm plötzlich vorkamen, wenn Alanna darüber sprach.
Alanna nahm das Angebot ihres neuen Freundes nur zu gern an. Von da an fand man sie abends oft in seinem oder ihrem Zimmer, wo sie beisammensaßen und die Köpfe über eine Karte oder ein Blatt Papier beugten.
Das Schwitzfieber schlug ohne Vorwarnung im März zu. Es verschonte keinen, weder Stadtbewohner noch Palastpersonal, noch Priester, nicht einmal die Königin. Herzog Gareth und der Oberste Richter erwischte es als nächste. Sir Myles erkrankte nicht. »Ich muss so viel Wein intus haben, dass für eine Krankheit kein Platz mehr ist«, erklärte er Alanna. »Wirst du es jetzt also lassen, mir ständig zu sagen, ich solle mit dem Trinken aufhören?«
Alanna ging es gut. Sie arbeitete härter als jemals zuvor. Jedes Mal, wenn ein weiterer Diener erkrankte, musste sie noch mehr Aufgaben übernehmen. Unterricht fand keiner statt, denn die meisten ihrer Lehrer waren erkrankt. Alanna machte Betten, wusch Geschirr, mistete Ställe aus. Von klein auf hatte man ihr beigebracht, dass es keine Arbeit gab, die für einen wahren Edlen zu schmutzig war. Jetzt wurde die Theorie zur Praxis.
Die Pagen und die Knappen – die Jüngsten und Gesündesten des Palasts – waren die Letzten, die erkrankten. Und zu diesem Zeitpunkt kam der Dunkelgott in den Palast und suchte sich unter den Fieberkranken seine Opfer. In der
Stadt, wo die Seuche begonnen hatte, waren so viele gestorben, dass die Priester des Dunkelgottes die Toten auf Karren fortschafften. Innerhalb einer Woche hatte der Gott des Todes drei Pagen, fünf Knappen und den Obersten Kämmerer dahingerafft. Von Alannas engen Freunden erkrankte Raoul als Erster. Als Alanna ihn besuchte, lächelte er sie matt an.
»Ich komme mir so doof vor, dass ich hier im Bett liege, wo ich doch arbeiten sollte«, meinte er, während er unter den dicken Decken zitterte. »Wie geht es dir? Und dem alten Coram?«
»Uns geht es gut.« Sie stopfte die Decken um ihn herum fest.
»Und Jon?«
»Der hat nicht einmal einen Schnupfen. Er verbringt viel Zeit mit dem König.«
»Das kann ich ihm nicht verdenken. So Mithros will, wird die Königin wieder gesund.« Raoul ließ zu, dass ihm Alanna das schweißbedeckte Gesicht abwischte. Dann gab er ihr einen Schubs. »Raus mit dir, bevor du es dir auch noch einfängst.«
Alanna stellte fest, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Maudes Mahnung, sie solle ihre Gabe zum Heilen benutzen, ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie wusste, dass die Götter die Menschen bestraften, wenn sie ihre magischen Fähigkeiten nicht nutzten. Und dennoch wurde sie nervös, wenn sie daran dachte, sich ihrer Magie zu bedienen. Sie und Thom verfügten über eine größere Zauberkraft als alle, die sie kannte, und wenn sie diese Kraft benutzte und die Kontrolle darüber verlor, dann war es aus mit ihr – ebenso wie mit allen anderen, die sich in ihrer Nähe befanden. Thom gefiel diese
eigenartige Macht – ihr nicht. Sie war sich nie sicher, ob sie die Gabe kontrollieren konnte.
Nacheinander bekamen auch Gary, Francis und Alex das Fieber. Francis war der Kränkste und er phantasierte schon am Ende des ersten Tages. Die Palastheiler konnten nichts für ihn tun. Alanna hörte, wie einer von ihnen sagte, diejenigen, die es schon am ersten Tag so heftig erwische, müssten meistens sterben. Und es gab noch weitere beängstigende Geschichten. Man munkelte, das Schwitzfieber sei durch Zauberei verursacht worden. Es zehre die Zauberkraft der Heiler auf und sie seien inzwischen zu schwach, um noch irgendeinem helfen zu können.
Eines Abends war Alanna eben eingeschlafen, als Coram sie weckte. Er hatte schlechte Nachrichten. Francis hatte sich gerade in die Hände des Dunkelgottes begeben.
Alanna eilte hinunter zu der Kapelle, die dem Gott des Todes geweiht war.
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