Alanna - Das Lied der Loewin
sie ihre Balance besser halten konnten. Schließlich durften sie ihre inzwischen schweißgetränkten Stoffrüstungen wieder ablegen.
»Wellam. Trebond.« Sklaw schob ihnen zwei neue Stoffrüstungen zu. »Sollte mich sehr überraschen, wenn ihr es den beiden anderen gleichtun könnt.«
Alanna stellte sich mit zitternden Knien in der Abwehrstellung auf. Es war wie bei den sonstigen Prüfungen auch, nur noch zehnmal schlimmer. Bei einem Ritter entschied die Geschicklichkeit im Schwertfechten über Leben und Tod. Wenn sie einen Schwertkampf nicht hinbekam, würde sie kein Ritter werden und keine großen Abenteuer erleben. Plötzlich sah ihr Freund Sacherell wie ein Ungeheuer – ja, wie ein großes, dickes, gefährliches Ungeheuer – aus.
»Anfangen!«, befahl Sklaw. Alanna stolperte rückwärts, als sie versuchte Sacherells Ausfall auszuweichen. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, gelang es ihr gerade noch rechtzeitig, Sacherells auf sie niederfallenden Hieb abzuwehren. Sie stolperte wieder und fing sich im allerletzten Augenblick, um noch einen – und noch einen und noch einen – Schlag zu parieren. Sie stolperte und wehrte ab, ohne selbst je einen Hieb austeilen zu können und ohne dass es ihr nur einen Augenblick gelungen wäre, sicher auf den Füßen zu stehen.
Plötzlich machte Sacherell einen Ausfall, wobei seine Schwertspitze geradewegs auf Alannas Kehle gerichtet war. Sie stolperte über ihre eigenen Füße, stürzte und ließ ihr Schwert fallen. Als sie aufschaute, stand Sacherell über ihr. Seine Schwertspitze berührte ihre Kehle. Sie schloss die Augen, als Sklaw in dröhnendes Gelächter ausbrach.
In dieser Nacht lag sie wach und starrte an die Decke. Wieder und immer wieder durchlief sie in Gedanken den Kampf mit Sacherell. Was war denn bloß schiefgelaufen?
Sie hörte, wie Coram in seinem Zimmer umherging und sich fertig machte, um die Vordämmerungswache anzutreten. Als er hinausging, folgte sie ihm als kleiner, stiller Schatten. Wortlos begleitete sie ihn hinunter zu den Küchen und saß neben ihm, während er mit einer verschlafenen Küchenmamsell schäkerte und sein Frühstück aß. Immer noch schweigend folgte sie ihm zu seinem Posten auf der Schlossmauer. Gemeinsam sahen sie zu, wie sich der Himmel über dem Königswald von Grau zu Rotorange verfärbte, als die Morgendämmerung hereinbrach.
Schließlich meinte Coram: »Hast du denn überhaupt geschlafen?«
Alanna schüttelte den Kopf.
»Ich hab schon Schlimmeres gesehen.«
»Du warst dabei?«
»Ja, war ich.«
Alanna schloss die Augen und schauderte. Diese Demütigung musste schlimm gewesen sein für Coram, und das machte ihre eigene Demütigung nur noch schlimmer. Es war schon schrecklich genug, dass sie sich vor ihren Freunden und vor Herzog Gareth blamiert hatte. Aber Coram war es
gewesen, der ihr beigebracht hatte, wie man einen Dolch als Waffe benutzt, einen Pfeil abschießt, ein Pony reitet. Coram hatte sie bis jetzt immerzu ermutigt und sie gegen die Leute abgeschirmt, die unter Umständen herausfinden konnten, wer sie in Wirklichkeit war. Sie hatte Coram enttäuscht, und er hatte sich ihr Versagen mitansehen müssen.
»Ich verstehe das nicht«, flüsterte sie. »Es ... es war, als ob ... als hätte mein Körper nichts von dem getan, was ich ihm befohlen habe. In Gedanken sagte ich mir: ›Tu dies! Tu jenes! Tu irgendwas ‹ Aber mein Körper hat sich einfach verselbständigt. Sacherell ...«
»Sacherell war gar nicht so übel.« Coram gähnte. »Er ist so was wie ein Naturtalent. Ganz im Gegensatz zu dir. Manch einer, so wie zum Beispiel ich, der ist dafür geboren. Ich hab nie was anderes gekonnt und mir stand auch nie der Sinn danach. Tja – und dann gibt es welche, die schaffen es nie, richtig mit ’nem Schwert umzugehen. Die überleben nicht mal ihren ersten richtigen Kampf. Und dann gibt’s noch welche ...«
»Ja?«, fragte Alanna und griff nach diesem Strohhalm. Es war offensichtlich, dass sie nicht zum Schwertkampf geboren war; andererseits hatte sie aber auch nicht vor, bei ihrem ersten Kampf zu sterben.
»Manche lernen, sich das Schwert zu eigen zu machen. Sie üben in jeder freien Minute. Sie lassen sich nicht von ’nem Stück Metall – oder von Aram Sklaw – unterkriegen.«
Alanna starrte zum Wald und überlegte. »Kann man lernen, ganz selbstverständlich mit dem Schwert umzugehen?«
»Genauso gut, wie man lernen kann, ’nen Kerl, der größer und älter ist, in ’nem fairen
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