Alanna - Das Lied der Loewin
ruhig vorüber. Alanna verbrachte ihre ganze Zeit mit Unterricht und sie arbeitete in jeder freien Stunde, damit sie so gut – wenn nicht noch besser – wurde wie die Jungs. Ihre Lektionen in Zauberei fanden wöchentlich statt. Herzog Roger hielt ein waches Auge auf die Fortschritte seiner Schüler. Wie Alanna schnell merkte, legte er sehr viel Wert auf Theorie und verwandte oft mehrere Wochen auf die Gedanken, die hinter einem Zauberspruch steckten, bevor er ihnen erlaubte, den Zauberspruch auch tatsächlich auszuprobieren. Dadurch kamen sie nur sehr langsam voran. Viele der Zaubersprüche, die Roger für sie aussuchte, hatte Alanna schon von Maude gelernt. Da ihr Thoms Warnung im Gedächtnis geblieben war, fasste sie den Entschluss, Roger nicht zu sagen, dass sie diese Sprüche schon beherrschte – manche davon sogar auf fortgeschrittenem Niveau. Stattdessen lugte sie weiter hinten in die Schriftrollen, die ihnen Roger zu lesen gab, und ertappte sich dabei, wie sie in Zauberbücher schaute, die sie eigentlich in Frieden lassen sollte. Sie hatte den Verdacht, dass sich Jonathan nachts in einer abgelegenen Bibliothek einschloss und Zaubersprüche aus einem Buch übte, das anzurühren Roger ihnen verboten hatte. Alanna sagte weder zu Roger noch zu Jonathan etwas. Was Jon tat, ging ja schließlich nur ihn an. Sie selbst machte sich auch nie die Mühe, irgendjemandem Bescheid zu sagen, wohin sie verschwand, wenn sie heimlich mit Corams Schwert üben ging.
An einem freien Vormittag, als sie in Georgs Zimmer hockte, ertappte sie sich dabei, wie sie den Zauberspruch für
die Schutzwand der Macht ausprobierte, der in einem von Georgs Büchern stand. In dem Augenblick, als sie eine Wand aus leuchtend purpurfarbenem Feuer um sich herum aufsteigen sah, rief sie: »So soll es sein«, und brach damit den Zauber.
»Was mache ich denn da?«, fragte sie Georg angewidert.
Georg umschloss ihre Hände mit seinen Pranken. »Du verhältst dich ziemlich klug. Oh, du wirst ein großer Ritter werden, Damen retten und Drachen töten und all das, aber nicht alle Ungeheuer, denen du begegnest, haben Drachengestalt. Denk daran, was dein Bruder über Jons lächelnden Vetter sagte.«
Alanna sah ihm geradewegs in die Augen. »Glaubst du , dass von Herzog Roger irgendeine Gefahr droht?«
Georg zuckte die Achseln und ließ ihre Hände los. »Ich bin nur ein armer, ungebildeter Kerl aus der Stadt«, entgegnete er und seine haselnussbraunen Augen blitzten. »Ich weiß nur eins: Wenn mir einer eine Waffe gibt – egal, welche – und ich kann sie benutzen, dann tue ich das auch. Denk mal darüber nach, Alanna: Wie ist die Thronfolge, wenn Jonathan das einzige Kind ist?«
Sie zählte an den Fingern ab. »Der König. Die Königin. Jonathan. Und – und Herzog Roger.« Sie schnalzte genervt mit den Fingern. »Seid ihr albern, Thom und du. Wenn Herzog Roger unbedingt den Thron will und wenn er so ein mächtiger Zauberer ist, warum nimmt er ihn sich dann nicht jetzt gleich?«
»Weil der Thron von einigen mächtigen Leuten umgeben ist, Kleine«, entgegnete Georg. »Nein – ich würde Herzog Gareth nicht zum Feind haben wollen, genauso wenig wie meinen Obersten Richter. Auch mit deinem stillen Freund
Sir Myles ist nicht zu spaßen. Und dann sieh dir Jonathans Kameraden an: Gary, der sogar noch gescheiter ist als sein Vater; Alex, der so gut mit dem Schwert umgehen kann wie kaum ein anderer; du mit deiner Gabe; und dein Bruder in der Stadt der Götter. Er wird warten, unser lächelnder Freund.« Georg warf einen Apfel in die Luft und durchbohrte ihn mit seinem Dolch. Er hob ihn auf, zog ihn von der Klinge und biss nachdenklich hinein. »Er wird herausfinden, wer Jonathan beim Schwitzfieber vor dem Tod gerettet hat. Er wird sich Freunde machen und nach allen Seiten Gefälligkeiten erweisen. Er wird die Leute des Königs zu seinen Leuten machen. Einige, die er niemals für sich gewinnen kann, wird er sich vom Hals schaffen. Und dann wird er zuschlagen.« Er deutete mit dem Dolch auf Alanna. »Also – lern deine Zaubersprüche, Kleine. Du wirst sie noch brauchen. Wenn ich mich nicht irre, mag dich der Herzog von Conté auch nicht lieber als du ihn.«
Während Alanna gleichzeitig Schwertkampf und Zaubersprüche übte – beides an Orten, wo keiner sie sah –, traf Jonathan die Menschen aus seiner Stadt. In diesem Winter gingen er und Alanna so oft wie möglich ins »Tanzende Täubchen« hinunter. Hier wurde Jon zu »Johnny«, dem reichen
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