Alanna - Das Lied der Loewin
Göttin
1
Die Dame im Wald
Die Reiterin mit dem kupferfarbenen Haar sah zum dunklen Himmel empor und fluchte. Gleich würde das Gewitter losbrechen, und dabei gab es weit und breit keinen Unterschlupf. Sie hatte keine Wahl: Sie musste die Nacht im Freien verbringen.
»Ich hasse es, nass zu werden«, erklärte Alanna von Trebond ihrer Stute. »Ich friere auch nicht gern, und wahrscheinlich droht uns gerade beides.«
Als Antwort wieherte das Pferd und warf den weißen Schweif. Alanna seufzte und tätschelte Moonlight am Hals – es missfiel ihr auch, dass ihre treue Stute derart schlechten Witterungsbedingungen ausgesetzt war.
Sie kamen von den Küstenhügeln, wo Alanna etwas zu erledigen gehabt hatte. Vor ihnen erstreckte sich ein Wald; dahinter lag die Große Südstraße, und von dort aus war es nur noch ein halber Tagesritt bis zur Hauptstadt und nach Hause. Alanna schüttelte den Kopf. Mit etwas Glück konnten sie vermutlich irgendwo unter den Bäumen einen Unterschlupf finden.
Sie schnalzte Moonlight zu und ritt schneller. In der Ferne grollte der Donner, und ein paar Regentropfen wehten ihr ins Gesicht. Vor Kälte zitternd, fluchte sie leise. Sie überzeugte
sich, dass die Schriftrolle, die sie, zwischen Waffenrock und Hemd gesteckt, mit sich trug, gut in der wasserdichten Hülle verwahrt war, und schlüpfte in einen Umhang, der mit einer Kapuze versehen war. Ihr Freund Myles von Olau würde ganz schön wütend werden, wenn das dreihundert Jahre alte Dokument, das sie für ihn geholt hatte, Regentropfen abbekam.
Moonlight trug sie unter die Bäume, wo Alanna in die sich herabsenkende Dunkelheit starrte. Wenn sie noch lange weiterritten, würde es selbst in einem so dichten Wald wie diesem hier unmöglich werden, trockenes Feuerholz zu finden, denn der Regen fiel inzwischen in dicken Tropfen. Es wäre schön, wenn sie eine verlassene – oder sogar eine bewohnte – Hütte fände, doch ihr war klar, dass sie darauf nicht hoffen durfte.
Mit einem nassen Klatschen schlug etwas auf ihren behandschuhten Handrücken – eine riesige, haarige Waldspinne. Alanna stieß einen Schrei aus, schleuderte das eklige Ding beiseite und jagte damit Moonlight einen Schreck ein. Die goldfarbene Stute tänzelte nervös, bis ihre Herrin sie wieder unter Kontrolle hatte. Einen Augenblick lang hockte Alanna zusammengekauert unter ihrem Umhang und schüttelte sich.
Ich hasse Spinnen, dachte sie aufgebracht. Spinnen sind ekelhaft. Angewidert schüttelte sie den Kopf und nahm mit immer noch zitternden Händen die Zügel wieder auf. Die anderen Knappen im Palast würden sie auslachen, wenn sie wüssten, dass sie vor Spinnen Angst hatte. Sie würden sagen, sie benähme sich wie ein Mädchen, ohne zu wissen, dass sie ja tatsächlich eines war.
»Und überhaupt – was wissen denn die schon über Mädchen?
« , fragte sie Moonlight, während sie weiterritten. »Die Dienstbotinnen im Palast gehen mit Schlangen um und töten Spinnen, ohne sich albern aufzuführen. Warum sagen die Jungs, einer benähme sich wie ein Mädchen, als wäre das eine Beleidigung?«
Alanna schüttelte den Kopf und lächelte vor sich hin. In den drei Jahren, die sie nun schon als Junge verkleidet ging, hatte sie gelernt, dass die Jungs die Mädchen ebenso wenig kannten wie die Mädchen die Jungs. Total verrückt, dachte sie. Immerhin sind wir ja alle Menschen. Aber so war es eben.
Links vom Weg erhob sich steil ein Hügel, an dessen Spitze eine alte Weide mit dichtem Geäst stand. An der Stelle würde es stundenlang dauern, bevor der Regen bis nach unten auf den Boden drang, sofern ihm das überhaupt gelang, und zwischen Geäst und Stamm war Platz genug für sie und ihr Pferd.
In Windeseile hatte sie Moonlight den Sattel abgenommen und ihr eine Decke übergeworfen. Die Stute graste unter dem Baum, während Alanna trockenes Kleinholz, Äste und Blätter sammelte. Mit einiger Mühe und vielen Flüchen (Coram, ihr erster Lehrer im Feuermachen, war Soldat, und von ihm hatte sie die wildesten Ausdrücke gelernt) brachte sie ein Feuer in Gang. Als es schön brannte, sammelte sie große, ein wenig feuchte Äste und legte sie zum Trocknen daneben. All das hatte ihr Coram in Trebond beigebracht, als sie noch klein gewesen war und davon geträumt hatte, eines Tages eine Kriegerin zu werden.
Wie Coram ihr damals erklärte, als sie ihm von ihrem Vorhaben erzählte, gab es da nur ein einziges Problem. Die Töchter der Edlen besuchten Klosterschulen und wurden
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