Alantua
Alantua. Die Zeit, die mir
bleibt werde ich mit allen Kräften nutzen, meine Tochter auf
ihre Rolle als Königin vorzubereiten.“
Anyún
sah die Tränen in Phiols Augen. Kwarren hatte den Blick gesenkt,
doch ihr Gesicht wirkte angespannt. Sie selbst fühlte sich
plötzlich sehr ruhig und klar. Dies war ihr Schicksal. Sie würde
nicht davor wegrennen.
„Das
einziges, was ich euch anbieten kann“, fuhr Martrella fort,
„ist, dass ihr selbst die Wahl trefft. Ihr dürft
entscheiden, welche von euch welche Aufgabe übernimmt. Besprecht
euch, wählt weise, entscheidet in Ruhe. Ihr habt eine Chance,
die ich niemals hatte.“
„Und
der Rat?“ hakte Kwarren nach. „Der Rat von Alantua wird
unsere Wahl vielleicht nicht gutheißen.“
„Den
Rat überlass mir. Sie werden eure Entscheidung akzeptieren. Und
ich ebenso.“
Schwestern
Ich
hatte es geahnt. Sie benutzte uns für ihre Politik. Wie konnte
es anders sein.
Auf
dem Weg nach Dejia hätte ich genügend Möglichkeiten
gehabt, zu fliehen. Ich hatte sie nicht genutzt. Stattdessen befand
ich mich nun in meinem alten Zimmer, das noch genauso aussah wie vor
neun Jahren. Hatte sich nichts verändert? Das Zimmer nicht,
meine Mutter nicht? Langsam atmete ich den altbekannten Duft ein. Das
Himmelbett aus dunklem Holz dominierte den Raum. Mehrere Truhen aus
dem selben Holz, die mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren,
beherbergten Kleider und Spielsachen aus der längst verlorenen
Kindheit. Die Wände waren hell getüncht. Das große
runde Fenster zeigte nach Osten.
Unsere
Gemächer befanden sich im Ostturm und waren wie in einer
Honigwabe angeordnet. Eine Tür führte zum Flur, eine andere
zu Anyúns Zimmer, das zwischen dem meinen und dem von Phiol
lag.
Jemand
hatte ein heimeliges Feuer im Kamin entzündet obwohl es
eigentlich warum genug war. Wenn ich wollte, würde man mir
sicher auch ein heißes Bad einlassen. Für einen kurzen
Moment stellte ich mir vor, den Staub der Reise von der Haut zu
schrubben, meine verspannten Glieder im herrlichen Wasser zu lockern,
die Augen zu schließen und an nichts zu denken. Nun, vielleicht
an nichts außer Kapitän Dannerr. Wann immer ich an ihn
dachte, lächelte ich.
Aber
es war viel zu tun, keine Zeit für Träumereien. Ich musste
meinen Schwestern die Augen öffnen. Sie durften sich nicht auf
Mutters Vorschlag einlassen. Sie durften sich nicht verkaufen, erst
recht nicht für Alantua.
Vorsichtig
öffnete ich einen Spalt zu Anyúns Zimmer. Sie lag noch in
voller Kleidung, verstaubt und dreckig wie ich selbst, auf ihrem Bett
und drückte eine Puppe an sich. Leise trat ich ein. Ich erkannte
die Puppe. Unsere Mutter hatte sie selbst für Anyún
angefertigt. Der runde Holzkopf zeigte ein aufgemaltes, lächelndes
Gesicht. Der Körper bestand einfach nur aus einem weichen,
hellgelben Tuch. Haare hatte die Puppe keine, dafür eine
hölzerne, mit Gold bemalte Krone.
Anyún
öffnete die Augen, sie schlief nicht, und sah mich müde an.
„Uns
hat sie nie Puppen gemacht“, sagte ich und setzte mich neben
sie auf ihre weiche Matratze. Anyún gab mir ihre Puppe, damit
ich sie ansehen konnte. Die Farben des Gesichts waren mittlerweile
etwas verblasst. Doch sie roch noch immer nach Blaubeerkuchen und
Honig, nach Versteckspielen im Heu und Picknicken auf der
Blumenwiese. „Du bist ihre Lieblingstochter“, sagte ich
sanft und gab ihr die Puppe zurück. Ich war nicht eifersüchtig,
es war nur eine Feststellung.
„Vielleicht
hat sie auch erst bei Anyún begriffen, was es bedeutet, ein
Kind zu haben.“ Phiol war eingetreten. Sie hatte sich frisch
gemacht, ihre Reisekleidung gegen ein langes Nachtgewand getauscht,
ihre langen dunklen Locken fielen frisch gebürstet über
ihre Schultern. Sie setzte sich zu uns auf das Bett.
Im
Schein des Kaminfeuers, das auch Anyúns Zimmer erwärmte
und erhellte, betrachteten wir uns schweigend. Wie sollten wir
entscheiden?
„Wir
müssen das nicht tun“, sagte ich schließlich. „Sie
können uns nicht zwingen. Wir können fort gehen. Nach
Westen.“
„Dann
wird es Krieg geben.“ Anyún legte ihre Puppe behutsam
auf ihr weiches Daunenkissen.
„Es
hat schon früher Kriege zwischen Alantua und Kantú
gegeben. Wenn Arthano Krieg will, wird er ihn auch so bekommen, ohne
unser Zutun. Alantua hat eine starke Armee und Tallgards mächtige
Krieger als Verbündete. Sie brauchen uns nicht. Außerdem
könnte es ein Trick sein. Arthano könnte diejenige von uns,
die nach Kantú reist, als Geisel
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