Alantua
und derjenige ist heute nicht hier.“
Anyún
wusste nicht, wovon sie sprachen. Doch der Schmerz aller und der
Kummer ihrer Mutter waren für sie kaum auszuhalten.
„Streitet
nicht“, bat sie. „Das bringt uns auch nicht weiter.“
Die
Königin stützte sich blass an ihrem Schreibtisch ab. „Ich
habe die Götter angefleht, mich am Leben zu lassen und mir genug
Kraft zu schenken, bis ihr hier seid. Sie haben mich erhört. Und
nun müsst ihr mir gut zuhören. Die Götter stellen uns
auf eine harte Probe. Ich weiß nicht, wie viele Monde mir noch
bleiben... Ich wünschte, ich müsste euch diese Aufgabe
nicht übergeben und ich könnte sie selbst erledigen. Die
Götter wollen es anders. Sie fordern
euch...“
Sie
ging um ihren Schreibtisch herum zur anderen Seite. Hier befand sich
eine Schublade, aus der sie ein gerolltes Pergament hervorholte.
„Phiol...“
Ihre
älteste Tochter kam zu ihr und nahm das Pergament entgegen. Sie
war ebenso blass geworden wie ihre Mutter, als sie das schwarze
Siegel erkannte.
„Aus
Kantú...“ Sie entrollte die Botschaft und sprach mit
zittriger Stimme. „Es ist eine Einladung. Der neue König
von Kantú erbittet die Anwesenheit des Königshauses von
Alantua zu seiner Krönung.“
„Diese
Einladung abzulehnen käme einer Kriegserklärung gleich“,
erklärte Martrella.
„Nein“,
Phiol schüttelte den Kopf. „Wir können nicht dorthin
fahren. Nicht zu
ihm.
Mutter,
du hast keine Ahnung, was da unten vor sich geht.“ Und so
berichtete sie von den Flüchtlingen, die sie im Wald östlich
von Ilinde gerettet hatten und was diese zu berichten hatten.
„Mal
abgesehen von der politischen Lage“, gab Kwarren zu bedenken
und sie schien sich nun zu beherrschen, „sind wir keine
Spielfiguren, die man für irgendein grausames Spiel nach
Belieben einsetzen kann.“
„Ich
sagte doch, ich würde selbst gehen, wenn ich könnte.“
Die Königin seufzte tief. „Mein ganzes Leben habe ich für
Alantua gegeben. Ich war jünger als Anyún, als meine
Mutter starb und ich zur Königin gekrönt wurde. Alantua
befand sich mitten im Krieg mit Kantú. Plötzlich lag die
Verantwortung für ein ganzes Volk in meinen Händen. Am
liebsten wäre ich weggelaufen, weit fort... So wie du, Kwarren.
Aber ich konnte nicht. Die Menschen vertrauten mir. Gegen den Willen
des Rates – Frauen und Männer mit weit mehr
Lebenserfahrung als ich junges Ding damals – handelte ich einen
Friedensvertrag mit König Arthro aus. Wir besiegelten diesen mit
der Hohen Hochzeit. Das Kind, das daraus entstand sollte ein Zeichen
des Friedens werden und zur Hälfte in Alantua und zur anderen in
Kantú aufwachsen. Dann rebellierten die Stämme im Norden.
Ein weiterer Krieg drohte, diesmal ein Bürgerkrieg, Bruder gegen
Bruder, Schwester gegen Schwester. Ich warf mich dem Anführer zu
Füßen. Erneut verkaufte ich mich für den Frieden ...
für das freie Volk von Alantua. Aber war das nicht meine
Bestimmung? Wer konnte sie vor dem Tod und Leid bewahren außer
mir? Ich musste meine eigenen Kinder gen Süden und Norden
schicken, in ein ungewisses Leben. Wieder für Alantua. Wisst ihr
denn, was es für eine Mutter bedeutet, ihre Kinder gehen zu
lassen? Wer würde für sie da sein, wenn sie des Nachts
aufwachten? Wer würde sie trösten? Sie in den Armen halten?
Ich weiß, was es bedeutet, sein Leben für Alantua zu
geben. Und ich würde alles dafür geben, euch das zu
ersparen.“
Stille
Tränen rannen über Martrellas blasse Wangen.
„Warum
tust du es dann nicht?“ wollte Kwarren wissen.
Anyún
konnte diesen Kampf nicht länger ertragen. „Weil sie
sterben wird.“
Stille.
Der Trotz in Kwarrens Augen war noch da, doch sie sagte nichts mehr.
Phiol hatte die Hand vor den Mund geschlagen.
Anyún
atmete tief ein. „Was möchtest du, das wir tun, Mama?“
Martrella
lächelte müde. Sie strich ihrer Jüngsten eine Locke
hinter das Ohr, wie sie es früher so oft getan hatte.
„Es
gibt drei Aufgaben für drei Töchter. Eine muss nach
Tallgard gehen und die Hohe Hochzeit mit König Berenbarr
vollziehen. Tallgard braucht uns und wir brauchen Tallgard. Die
zweite muss nach Kantú reisen und als Vertreterin Alantuas an
der Krönung Arthanos teilnehmen. Wir können es uns nicht
leisten, ihn durch Nichterscheinen zu provozieren. Und die dritte...“
Martrella
legte eine Hand an ihren Hals, als fiele ihr das Sprechen schwer.
„Die dritte muss hier bei mir bleiben. Eine von euch wird meine
Nachfolge antreten als Königin von
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