Alantua
ertastete. Der
abnehmende Mond und dahinziehende Wolkenfetzen am Nachthimmel
erschwerten die Sicht. Anyún musste sich ganz auf ihr Gefühl
verlassen. Als sie auf halbem Weg nach oben mit dem linken Fuß
abrutschte, war Arthes zur Stelle und stützte ihren Fuß
mit einer Hand.
„Langsam,
wir wollen uns doch nicht den Hals brechen“, sagte er
belustigt.
„Still
da unten, sonst trete ich dich!“
Sie
wagte es nicht, ein Licht zu zaubern, um den keinen Hinweis zu geben,
wo sie zu finden waren. Oben auf der Mauer verharrte sie.
Im
Schloss waren viele der Fenster beleuchtet. Stimmen und Rufe klangen
zu ihnen herüber. Die Wachen waren in Alarmbereitschaft. Bald
würden sie herausfinden, wer dem Gefangenen zur Flucht verholfen
hatte...
„Lebt
wohl“, sagte sie leise.
„Wie
sieht der Plan aus?“ hakte Arthes unterdes nach.
„Wir
gehen hinunter an den Fluss. Ein Boot bringt uns flussabwärts
nach Dejiamaar, das ist unser Osthafen. Von dort nehmen wir ein
anderes Schiff in Richtung Süden.“
„Wenn
sie uns überhaupt so weit kommen lassen.“
„Was
willst du sonst tun? Pferde stehlen und nach Süden reiten?“
„Beides
dauert zu lange.“ Arthes sah sich um. Sie befanden sich am
Nordende der Stadt. Hier lagen die Felder und weiten Wiesen, die bis
zu den tiefen Wäldern reichten. Und diese Wälder bedeckten
den ganzen Norden Alantuas. „Wie weit entfernt ist dieser Hügel
dort?“
„Wieso?
Das ist die falsche Richtung.“
„Vertrau
mir. Also?“
Sie
sollte ihm vertrauen? Dem Mann, der sie belogen und verfolgt hatte?
Dem Mann, dem sie nun zur Flucht verhalf und sich damit den Zorn
General Tyrons und des Hohen Rates verdiente? „Was hast du
vor?“
„Du
wirst es mir nicht glauben. Du musst es selbst sehen. Also, kommst du
mit?“ Er warf ihr Bündel nach unten, bevor er sich einfach
von der Mauer gleiten ließ. „Komm schon, ich fang dich
auf.“
Sie
konnte ihn kaum erkennen. Vertrauen... Sie glaubte immer noch nicht,
dass sie ihm jemals vertrauen konnte. In dieser Nacht aber blieb ihr
nichts anderes übrig, als ihm zu folgen, obwohl doch eigentlich
er ihr hätte folgen müssen. Sie landete in seinen Armen und
er lächelte.
„Siehst
du, das war doch gar nicht so schwer.“
Während
sie die Feldwege beschritten, sah Anyún oft zurück. Wenn
man sie fand, würde General Tyron sie beide einsperren lassen.
Machte sich Anyún des Hochverrates schuldig, weil sie einen
politischen Gefangenen befreite? Andererseits hatte ihre Mutter
selbst betont, dass Arthes ein Gast und kein Gefangener sei. Er war
kein Feind Alantuas. Bisher nicht.
Als
sie den Hügel erreicht hatten, war Anyún sehr müde.
Sie nahm einen Schluck Wasser aus dem ledernen Trinkbeutel an ihrer
Seite. Arthes nahm ihn dankbar entgegen.
„Geht
es dir gut?“
„Ich
weiß es nicht. Eigentlich bin ich nicht so leicht zu
erschöpfen. Mein Vater sagt, die Magie fordert ihren Preis. Aber
sie hat mich noch nie so müde gemacht.“ Sie setzte sich
auf das Gras und sah hinauf zu ihm.
„Du
hast vermutlich auch noch nie einem Gefangenen zur Flucht verholfen.
Ruh dich aus, wir haben einen Moment Zeit. Niemand ist uns gefolgt.“
Er
selbst blieb stehen und sah hinauf in den Nachthimmel. Dann griff er
unter sein Hemd und holte einen kleinen knöchernen Gegenstand
hervor, den er an einem Lederband um seinen Hals trug. Nicht größer
als Anyúns Daumen war es. Eine kleine Flöte. Arthes blies
hinein, doch kein Ton war zu hören. Zufrieden ließ er sich
neben Anyún nieder.
„Nun
haben wir Zeit, uns zu unterhalten.“
„Worauf
warten wir denn?“
„Auf
unsere Reisemöglichkeit gen Süden. Also, wieso hast du dich
umentschieden und mir zur Flucht verholfen?“ Obwohl er mit ihr
redete, galt seine Aufmerksamkeit dem Nachthimmel.
„Ich
muss nach Kantú zu meinen Schwestern. Die Visionen lassen mir
keine Ruhe. Aber ich kann nicht allein nach Süden reisen...“
„Hast
du Angst?“
„Ja,
habe ich!“ Sie trank noch etwas Wasser, um ihre Gedanken zu
sammeln. „Mein Leben lang war ich behütet. Zuerst im
Schloss und später auf der Insel. Ich hatte viele Freiheiten,
aber wirklich allein war ich nie. Niemand traut mir zu, dass ich auch
alleine zurecht komme.“
„Und
du traust es dir am allerwenigsten zu.“
„Immerhin
habe ich es geschafft, dich zu befreien.“
„Stimmt,
das hast du. Aber warum?“
„Weil
wir beide die gleichen Träume hatten. Und weil du den Weg nach
Süden kennst. Wenn meine Bestimmung in Kantú liegt, dann
liegt
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