Alasea 01 - Das Buch des Feuers
auf das Rauschen des Blutes im Herzen des Kriegers, damit es das Zischen übertönte.
»Wirf die Fackel weg!« verlangte Bol. »Du brauchst deinen Arm, um Elena zu tragen. Wir müssen uns beeilen. Vielleicht kommen wir ungeschoren durch die Gänge, wenn wir keine Zeit verlieren.«
Elena ließ es zu, dass sie von Er’rils kräftigem Arm in die Luft gehoben wurde. Sie schlang ihm die Arme um den Hals, um sich an ihm festzuhalten. »Schwing dich auf meinen Rücken«, sagte er.
Sie tat, was er von ihr verlangte, und schlang ihm die Beine um den Körper. Er hakte seinen Arm in ihre Kniekehle. »Du brauchst mich nicht festzuhalten«, raunte sie ihm aus nächster Nähe ins Ohr. »Wenn du dich nur ein bisschen vorbeugst, kann ich mich selbst halten.«
Er’ril gab ein bestätigendes Brummen von sich und ließ sie los.
Sie klemmte die Knie fester zusammen und verlagerte das Gewicht. Sie fühlte sich gut ausbalanciert; es war beinahe so, wie auf einem Pferd zu reiten. »Ich bin bereit«, sagte sie.
Er’ril legte die Hand auf den Knauf seines Schwerts und nickte Bol zu. »Geh du voran!« Elenas Arm drückte ihm auf die Kehle, sodass seine Stimme angestrengt klang.
Bol hob die Laterne, bog in den nach rechts wegführenden Gang und eilte in gemäßigtem Laufschritt voran. Er’ril folgte ihm und rief dem Mädchen auf seinem Rücken ein gepresstes »Halt dich gut fest!« zu.
Elena legte die Wange in seinen Nacken und hielt sich fest, sorgsam darauf bedacht, ihren Träger nicht vollständig zu ersticken. Sein Geruch stieg ihr in die Nase: nach Pferd und dem üppigen Moschus seiner heimatlichen Prärie. Ein Bild erschien vor ihrem geistigen Auge, wie er als Junge durch die Auen seiner Heimat Standi rannte, mit kräftigen Beinen über Bewässerungsgräben sprang, mit breiter Brust die Luft einsog, die gelb war vom Pollenstaub der Frühlingsfelder. Wie wäre es wohl gewesen, wenn sie sich als Kinder kennen gelernt hätten? Wären sie Freunde geworden?
Bevor sie über die seltsame Wirkung, die sein Geruch auf sie ausübte, weiter nachgrübeln konnte, befanden sie sich in dem neuen Gang. Das Zischen wurde lauter, da das bedrohliche Geräusch von den Wänden um sie herum widerhallte. Sie hatte das Gefühl, es kröche ihr in den Schädel und hüpfe darin herum. Sie blickte über Er’rils Schulter nach vorn, während sie hinter Onkel Bol und der Laterne dahintrabten.
Bei aller Eile waren sie doch nicht so unbesonnen, dass sie über einen lockeren Stein stolperten oder sich den Kopf an einem abgesunkenen Deckenbalken anschlugen. Diese schnelle, aber vorsichtige Gangart war es, die Onkel Bol vor dem Tod bewahrte. Von ihrem erhöhten Platz aus sah Elena den Lichtstrahl der Laterne, der ihnen vorauseilte und die Hindernisse beleuchtete. Plötzlich verschwand der Laternenschein, der über den Steinboden glitt, als ob er von der hungrigen Dunkelheit verschluckt worden wäre. Sie brauchte einen Augenblick, bis ihr klar wurde, was vor ihnen lag. »Pass auf!« rief sie ihrem Onkel zu.
Er hielt schlitternd inne und wedelte mit den Armen, um nicht zu stürzen. Seine Fußspitzen schwankten am Rand eines schroffen Abgrunds. Fast wäre Er’ril gegen seinen Rücken geprallt und hätte ihn in die schwarze Leere gestoßen, doch der Schwertkämpfer war behände genug, Onkel Bol stattdessen von der Kante wegzuziehen.
Elena fiel von Er’rils Rücken. Alle drei starrten in den gähnenden Abgrund hinunter. Eine Verschiebung des Gesteins hatte einen tiefen Riss im Berg verursacht; das Licht der Laterne reichte kaum bis zur anderen Seite des breiten Spalts, wo sich der Gang fortsetzte - und die Entfernung war viel zu groß, um mit einem Sprung überwunden werden zu können.
Das Echo eines weiteren Donnerschlags hallte zu ihnen herab. Onkel Bol hatte Recht. Am Ende des Korridors gab es eine Öffnung hinaus an die Oberfläche. Doch der Spalt zwischen ihnen und der Fortsetzung des Gangs bildete ein größeres Hindernis, als wenn es tausend Meilen gewesen wären.
Der Donner verhallte, und die Quelle des Zischens wurde deutlich. Das Geräusch stieg wie Dampf aus dem Abgrund auf, wie von einem wild gewordenen Wasserkessel kurz vor dem Bersten.
»Felskobolde«, murmelte Bol.
Hinter ihnen antwortete jetzt ein schwerzüngiges Zischen den Artgenossen aus dem Spalt.
Onkel Bol wandte sich zu Elena um. Noch nie hatte sie so viel Verzweiflung in seinen Augen gesehen. »Es tut mir Leid«, flüsterte er ihr und Er’ril zu.
Elena hörte seine Worte kaum.
Weitere Kostenlose Bücher