Alasea 01 - Das Buch des Feuers
Sie sah die Bewegung tintenschwarzer Schatten in dem Gang hinter sich, die auf ihr Licht zuschwärmten.
»Kral!« rief Ni’lahn durch den sturmdurchtosten Wald. Äste trafen ihr Pferd wie Peitschenhiebe, ein kräftiger Regen prasselte auf sie herab und stach ihr ins Gesicht. Sie setzte ihren Weg durch den Wald in die Richtung fort, wo sie das Dröhnen vorbeistampfender Hufe gehört hatte. Sie trieb den Hengst zu einer schnelleren Gangart an.
Hinter ihr folgten die Stute und ihr Reiter Rockenheim. Obwohl die Stute mit ihrem Hengst zusammengebunden war, unternahm der Mann keinen Versuch, von seinem Reittier abzuspringen und zu fliehen. Anscheinend hatte der Gefangene keine Lust, diesen Wald, in dem heute Nacht die Ungeheuer ihr Unwesen trieben, zu Fuß zu durchqueren.
»Er ist tot«, sagte Rockenheim missmutig. »Am besten suchen wir uns einen Baum mit dichtem Geäst und warten ab, bis sich dieses Unwetter verzogen hat.«
»Nein.«
»Er kann die Begegnung mit diesem Skal’tum keinesfalls überlebt haben.«
»Er hat es schon einmal geschafft.«
Rockenheim straffte die Schultern und duckte sich gegen eine nasse Bö. »Aber nicht in einer so schwarzen Nacht.«
»Ich habe ihn gehört.«
»Du hast den Donner gehört.«
Ni’lahn trieb den Hengst weiter und führte dabei die Stute mit. Alle ihre Sinne waren angespannt. Das Geräusch, das sie gehört hatte, war kein Donner gewesen. »Kral!« rief sie erneut, und der Wind riss ihr den Namen von den Lippen.
Wie als Antwort leuchtete im Wald weit vorn ein Licht auf. Erst dachte sie, sie seien im Kreis geritten und das trübe Licht komme von der Kate des alten Mannes. Aber sie befanden sich zu tief im Inneren des Waldes. Sie setzte sich auf dem Pferd aufrechter hin und versuchte, den Regenschleier mit den Augen zu durchdringen. Der Lichtschein, ein schwacher blauer Schimmer, schien auf und ab zu hüpfen. Sandte ihnen jemand ein Signal? Vielleicht Kral?
Sie streckte die Hand nach einem Baumstamm aus und senkte die Lider halb, um durch die raue Rinde hindurch das Herz des Baumes zu suchen, bis zu den Wurzeln, die sich mit den Wurzeln anderer Bäume des dunklen Waldes verflochten. Tief in der Kehle summte sie ein Lied der Nyphai, ein Lied der Erkundung. Was befand sich vor ihnen, Freund oder Feind? Die einzige Erwiderung bestand jedoch in einem unwilligen Rumoren. Wie dumpf die Wurzeln dieser Bäume klangen, ähnlich wie Menschen, die im Traum schnarchen. Nur eine einzige federleichte Antwort kam zurück - Elv’en.
Erschreckt zog sie die Hand von der Holzrinde zurück. Nur ein alter Albtraum, dachte sie. Diese Bäume waren an die Vergangenheit verloren. Schon seit tausenden von Jahren gab es in dieser Gegend keine Elv’en mehr. Sie waren vor langer Zeit verschwunden, mit ihren Windschiffen über die Große Westsee gesegelt zu einem fernen Land, aus dem sie niemals zurückgekehrt waren.
Dennoch erweckte allein die Erwähnung der uralten Elv’en eine Sorge in ihrer Brust; es war ein so verfluchter Name, der da zwischen den sturmdurchtosten Ästen erklang.
Von Neugier getrieben, feuerte sie ihren Hengst zu einem schnellen Trab in Richtung des Lichts an. Die Baumstämme, die zwischen ihr und dem Licht schwankten, brachten den Schein zum Blinken wie ein geheimnisvolles Signal. Schließlich wehte ein besonders heftiger Windstoß von den Gipfeln herab und eine Regenwand flutete über sie hinweg. Das Licht erlosch. Ni’lahn hielt ihr Pferd an und wartete, unsicher, wo sich das Licht zuletzt befunden hatte.
Mit angehaltenem Atem ließ sie den Blick schweifen. Rockenheim lenkte seine graue Stute neben ihren kastanienbraunen Hengst. »Das gefällt mir nicht. Wir sollten fliehen. Man kann nie wissen, welche Ungeheuer sich in dieser Nacht herumtreiben.«
Sie hob warnend die Hand und lauschte angespannt. Sie glaubte, das Knacken eines Zweigs in der Nähe gehört zu haben.
»Wa…?« Rockenheims Frage wurde von einer großen Hand abgewürgt, die sich ihm über den Mund legte.
Ni’lahn zuckte im Sattel herum. Aus einer Scheide am Handgelenk zog sie ein Messer. Wer immer Rockenheim gepackt haben mochte, befand sich auf der anderen Seite des Pferdes, ihrer Sicht verborgen.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Lichtschein zu ihrer Rechten wieder erschien, noch tiefer im Waldesinnern. Sie schenkte ihm kaum Beachtung, da ihre Aufmerksamkeit von dem Tumult auf der anderen Seite des Pferdes in Anspruch genommen wurde. Plötzlich tauchte ein Gesicht über dem Widerrist des
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