Alasea 01 - Das Buch des Feuers
dieses plötzliche Anhalten war Kral nicht gefasst. Er bemühte sich nach Kräften, sich im Sattel zu halten, konnte jedoch nicht verhindern, dass er über den Kopf seines Reittiers geschleudert wurde. Er landete mit einer Rolle am Boden und verhinderte somit einen oder mehrere Knochenbrüche. Kral richtete sich auf die Knie auf und blickte nach vorn, um zu sehen, was Rorschaff so sehr erschreckt hatte.
Ein zweites Skal’tum stakte von der Vorderseite der Kate heran und versperrte ihm den Fluchtweg zu den Bäumen. Kral hörte das zischende Lachen des ersten Skal’tums hinter ihm. »Komm zurück, Kleiner. Wir sind noch nicht fertig mit Spielen.«
Während sich Bol bemühte, eine Fackel aus dem brüchigen Stein der Wand zu hebeln, schickte Er’ril sich an, die Treppe hinaufzusteigen und dem Krach und dem Tumult, der aus der Kate über ihnen herunterschallte, auf den Grund zu gehen.
»Bleib, wo du bist, Mann aus der Prärie!«
Er’ril wandte sich zu der Stimme um, die von dem Geist im Spiegel kam. Die wogenden Lichtlinien über der strengen Gestalt der alten Frau wurden abwechselnd heller und dunkler. Er sprach zu dem Spiegel. »Meine Gefährten dort oben sind in Gefahr.«
»Um sie hast du dich nicht zu kümmern«, sagte sie kühl und kniff die Augen zusammen. »Du warst der Hüter des Buches, und jetzt bist du der Hüter jener, für die das Buch geschaffen wurde. Du musst Elena in Sicherheit bringen. Die Zeit hat die Begierde des Schwarzen Herzens nicht gemindert. Geht!« Ihr helles Bild in dem Spiegel flackerte wie eine Kerzenflamme im Wind; die letzten Worte kamen stoßweise. »Die dunkle Magik… schleicht in die Kate… schwächt meine Verbindung zu euch. Flieht… so lange ihr noch könnt. Lass mich nicht im Stich, Er’ril von Standi.«
Dann verschwand ihr Geist, und Dunkelheit ergriff wieder Besitz von dem Raum. Nur die blauflammigen Fackeln schlugen die Schwärze schwach zurück.
In der Stille trat das Mädchen an Er’rils Seite. Ein besonders lautes Krachen ertönte von oben und ließ sie zusammenzucken; sie griff nach seiner Hand, und er drückte sie besänftigend. Sie fühlte sich wie ein glühend heißer Holzscheit zwischen seinen Fingern an. Wie konnte dieses Kind eine Hexe sein? Hexen waren die legendäre Verkörperung des Bösen: bucklige alte Vetteln, die in tückischen Sümpfen und schäbigen Hütten lebten, oder schöne Frauen mit feuerroten Haaren, die bei ihren mitternächtlichen Besuchen Männer ins Verderben lockten. Er’ril betrachtete die Kindfrau. Im Schein der Fackel zeigten ihre Augen den glasigen Schimmer von Angst, ihre Lippen waren leicht geöffnet, während sie die Luft anhielt. Mit einer Hand nestelte sie an einer Haarlocke neben dem Ohr. Er drückte erneut ihre Hand. Böse oder nicht, diese Hexe stand unter seinem Schutz.
Bol hatte endlich eine der Fackeln aus der Halterung gelöst und deutete damit in den einzigen Gang, der aus der Kammer hinausführte.
»Dort entlang!« Er reichte Er’ril die Fackel.
Da er nur einen Arm hatte, war Er’ril gezwungen, die Hand von Elenas verkrampften Fingern zu lösen, um die brennende Fackel zu übernehmen. Die Hand des Mädchens, die jetzt frei war, griff nach dem Rand von Er’rils Lederwams und hielt sich daran fest.
Bol hob seine Laterne. »Kommt. Ich habe diese Ruinen hier gründlich erforscht und kenne mich gut aus.«
»Kennst du einen Weg hinaus in den Wald?« wollte Er’ril wissen.
Der Alte antwortete flüsternd, wobei er sich umdrehte und dem schwarzen Gang zuwandte. »Früher habe ich einen Weg gekannt«, sagte er. »Aber diese Ruinen verwirren einen mit einer besonderen Art der optischen Täuschung.«
Er’ril und Elena folgten Bol in den dunklen Gang, der aus der Kammer hinausführte. Er entpuppte sich als ein alter Korridor der Schule. Vereinzelte Steine waren in der Feuchtigkeit zerbröckelt, und eine dicke Schimmelschicht bedeckte die Wände. Die Nischen, an denen sie dann und wann vorbeikamen, enthielten Statuen, die so lange schon dem tropfenden Wasser und dem Zahn der Zeit ausgesetzt waren, dass die Formen zu buckligen Massen verwittert waren, die den Vorbeigehenden einen gehörigen Schreck einjagten.
Er’ril stellte fest, dass sich Elena mit Bedacht von diesen dunklen Stellen fern hielt, und bei jedem Geräusch sog sie hörbar die Luft ein. Beim Gehen stolperten ihre Füße immer wieder vor Erschöpfung. Er hörte, wie sie zwischen den Schnaufern vor sich hin murmelte, unzusammenhängende Worte, die an
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