Alasea 01 - Das Buch des Feuers
ihr die Welt riesig vorgekommen, voller Abenteuer und neuer Entdeckungen. Nun, da sie allmählich zur Frau reifte, verstand Elena endlich die geflüsterten Worte der anderen Arbeiter.
Der Obsthain erstickt dich langsam.
Sie hob das Gesicht. Hier war ihre Welt. Ein Dickicht aus Bäumen, Blättern und Äpfeln. Nirgendwo gab es einen Durchbruch, nirgendwo hatte man freie Sicht. Der Ekel erregende Geruch nach verfaulenden Äpfeln hing schwer in der Luft. Der Geruch kroch einem in die Poren, drückte jedem sein Zeichen auf, beanspruchte einen als Eigentum. Elena drehte sich um und versank in der Schönheit des Hains.
Wenn sie doch nur die Flügel eines Vogels hätte, dann würde sie von hier wegfliegen! Über die Ebenen von Standi schweben, über die Fnova-Sümpfe segeln, zwischen den hügeligen Inseln des Archipels im Großen Ozean fliegen!
Sie drehte sich unter den Zweigen der Bäume im Kreis und stellte sich weit entfernte Orte vor.
»Wenn du mit Tanzen fertig bist, Schwesterchen«, rief Joach zu ihr herunter, »dann solltest du dich wieder an die Arbeit begeben.«
Seine strengen Worte stutzten ihr die Flügel, und sie trudelte aus den Wolken. Sie sah zu ihrem Bruder hinauf. Seine Stimme war das klingende Echo der Stimme ihres Vaters. Für einen Augenblick sah Elena sogar das Abbild ihres Vaters in den breiter werdenden Schultern ihres Bruders und seinem kräftigen, sonnengebräunten Gesicht. Wann war das geschehen? Wo war der Junge, der in Fantasiejagden schreiend mit ihr durch den Obsthain gerannt war?
Sie ging wieder zur Leiter. »Joach, verspürst du nie den Wunsch, diesen Ort zu verlassen?«
»Natürlich«, sagte er, ohne im Pflücken innezuhalten. »Ich möchte einmal meinen eigenen Hof haben. Vielleicht stecke ich mir ein bisschen Land in den wilden Hainen nahe des Horstes ab.«
»Nein, ich meine das Tal - die ganze Gegend mit ihrem Obstanbau verlassen.«
»Um Städter in Winterberg zu werden - wie Tante Fila?«
Elena seufzte und stieg ihre Leiter hinauf. Der Hain hatte ihren Bruder bereits voll und ganz verschluckt, sein Geist und seine Seele waren in dem Gewirr von Ästen verfangen. »Nein«, sagte sie, um es noch einmal zu versuchen. »Ich meine, das Vorgebirge verlassen, weggehen, um andere Länder zu sehen.«
Er hielt inne, einen reifen Apfel in der Hand, und wandte sich ihr mit ernstem Blick zu. »Warum?«
Elena streifte sich den Trageriemen über die Stirn. »Lass gut sein.« Ihr Korb fühlte sich jetzt doppelt so schwer an. Niemand verstand sie.
Plötzlich erschallte lautes Lachen von ihrem Bruder, was ihre Aufmerksamkeit wieder zu ihm lenkte.
»Was gibt es?« fragte sie in der Erwartung von etwas Komischem.
»Elena, man kann dich so leicht zum Narren halten!« Joachs Gesicht verzog sich zu einem missfälligen Grinsen. »Natürlich möchte ich dieses langweilige Tal verlassen. Für wen hältst du mich - für einen stumpfsinnigen Bauern? Meine Güte, ich bräche am liebsten von jetzt auf gleich von hier auf.«
Elena lächelte. Dann hatte der Hain ihren Bruder also doch noch nicht ganz und gar in seinen Krallen!
»Gib mir ein Schwert und ein Pferd, und schon bin ich weg«, fuhr er fort; seine großen Augen blickten träumend in eine unbestimmte Ferne.
Sie tauschten ein Lächeln über die Baumreihen hinweg aus.
Plötzlich erklang ein Läuten über den Hain: die Glocke zum Abendessen.
»Es wird auch Zeit«, sagte Joach, wobei er von der Leiter sprang und geschmeidig auf dem Boden landete. »Ich bin dem Verhungern nahe.«
Sie lächelte. »Du bist immer dem Verhungern nahe.«
»Ich wachse.«
Die Worte ihres Bruders stimmten zweifellos. Joach hatte innerhalb der letzten paar Monate gewaltig an Größe zugelegt; nächste Woche würde sein vierzehnter Geburtstag sein. Obwohl er nur ein Jahr älter war als sie, überragte er sie bereits um einiges. Sie widerstand der Eingebung, auf ihre Brust hinunterzusehen. Bei den anderen Mädchen in der Nachbarschaft sprossen bereits ansehnliche Knospen, während sie, wenn sie das Hemd auszog, fast wie ihr Bruder aussah. Die Leute hatten sie beide sogar schon oft irrtümlich für Brüder gehalten. Sie hatten beide das gleiche rote Haar, zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, die gleichen grünen Augen über hohen Wangenknochen und die gleiche sonnengebräunte Haut. Es stimmte zwar, dass sie mehr Sommersprossen, längere Wimpern und eine kleinere Nase hatte, dennoch war sie beinahe so muskulös wie er. Die gemeinsame Arbeit auf den Feldern und in
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