Alasea 01 - Das Buch des Feuers
hörte er nur das Prasseln des Regens auf den Blättern und das Pfeifen des Windes in den Zweigen. Keine Steinkrähe keckerte, kein Frosch quakte. Tol’chuk wischte sich die Nase ab und schniefte laut. Ich bin hier, gab er mit jedem Schniefen bekannt. Ich bin nicht tot.
Er marschierte weiter und sah einen hellen Schimmer zu seiner Rechten. Wie konnten Ferndal und Mogwied schon so weit gekommen sein? Er passte seinen Kurs der Richtung des Lichtes an; seine Beine waren so schwer wie die Baumstämme um ihn herum. Dieser sumpfige Wald verwirrte seinen Orientierungssinn. Das Licht, das wie ein Leuchtturm inmitten eines sturmgepeitschten Meers blinkte, wurde sein Leitstrahl. Die Augen starr auf die Helligkeit gerichtet, schleppte sich Tol’chuk weiter.
Der einsame Wald weckte eine starke Sehnsucht nach dem Anblick anderer Wesen in ihm, nach einer Bestätigung, dass nicht alles Leben von dem schwarzen Wald verschluckt worden war. Während die Beine ihn mühsam weitertrugen, fragte er sich, wie seine Gefährten an dieser dichten und engen Welt aus schweren Zweigen und erstickendem Unterholz Gefallen finden konnten. Wo gab es die weiten Ausblicke über tausende von Meilen? Wo die schneebedeckten Gipfel in der Ferne? Hier konnte er kaum die Hand ausstrecken, wenn er verhindern wollte, dass ihm ein Zweig ins Gesicht schlug, oder viel weiter sehen als bis zu seiner Nasenspitze. Selbst der Tunnel zur Kammer der Geister hatte nicht so bedrückend auf ihn gewirkt.
Während er weitermarschierte, stellte er fest, dass er sich dem Licht immer mehr näherte. Anscheinend hatten die anderen angehalten und endlich eine Rast eingelegt. Hoffentlich hatten sie ein trockenes Fleckchen gefunden, um dort das Ende des nächtlichen Unwetters abzuwarten.
Bald machte er die Bewegung dunkler Gestalten in dem Lichtschimmer aus. Sein Herz hüpfte vor Freude beim Anblick der anderen. Er war nicht allein. Als das Licht für einen kurzen Augenblick heller aufleuchtete, sah er drei Silhouetten, die sich in dem azurblauen Lichtschimmer abzeichneten. Er blieb schwankend stehen.
Drei? Wen hatten seine Gefährten getroffen?
Plötzlich schoss der Lichtschimmer davon und flitzte wie ein wilder Pfeil in den Wald. Vielleicht sollte er sich lieber im Verborgenen halten. Aber wenn die anderen in Schwierigkeiten steckten, auf irgendeinen Wegelagerer oder Strauchdieb gestoßen waren? Er war mit den Tücken des Waldbodens nicht vertraut und wusste, dass die anderen nur deshalb nichts von seiner Anwesenheit merkten, weil das Heulen des Sturms sich über alle anderen Geräusche legte. Sich näher anzuschleichen und die Lage im Voraus zu erkunden überstieg sein Können. Zu viele knackende Zweige und raschelnde Blätter würden sein Herannahen verraten.
Og’er waren selten mit der Gabe der Täuschung oder List gesegnet; sie vertrauten vielmehr auf rohe Gewalt, sowohl als Angriffs- als auch als Verteidigungsmaßnahme. Obwohl er ein Halbblut war, wusste Tol’chuk, dass dieser Teil seines Erbes sich bei ihm durchgesetzt hatte.
Deshalb griff er zu dem einzigen Mittel, das einem Og’er zur Verfügung stand. Er wischte sich die Nase, füllte die Lunge mit feuchter Luft und stürmte mit weiten Sätzen vorwärts, wie er es schon bei vielen Felsziegen in den Bergen erfolgreich angewandt hatte. Schnelligkeit war die einzige Art der Täuschung, zu der die Gattung der Og’er fähig war. Nur wenigen Geschöpfen war bekannt, wie schnell sich ein Og’er bewegen konnte. Und diese Geschöpfe, wie zum Beispiel die Ziegen, lebten niemals lange genug, um ihre Erfahrung anderen mitzuteilen.
Tol’chuks unerwartete Schnelligkeit - begleitet vom Krachen brechender Zweige und kleiner Baumstämme - überrumpelte die drei auf der Lichtung. Ihre Gesichter drehten sich zu Tol’chuk um, die Gesichter von drei völlig verdatterten Fremden.
Keiner davon war sein Weggefährte!
Ihm wurde klar, dass er bei seinem einsamen Grübeln gar nicht auf den Gedanken gekommen war, dass andere Reisende sich irgendwo in dem sturmdurchtosten Wald verkrochen haben könnten. Tol’chuk stand wie gelähmt da, während die anderen ihrerseits ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. Der größte der Männer, beinahe von so wuchtigem Körperbau wie ein Og’er, hielt eine Axt in der Hand, während eine zierliche Frau sich eine Hand über den Mund geschlagen hatte. Ein irgendwie heimatlos wirkender Mann mit silbernem Haar stand erstarrt in ihrer Nähe, die Augenbrauen hochgezogen.
Der dünne Kerl,
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