Alasea 01 - Das Buch des Feuers
von Betrug.«
»Aber sie singen nicht mehr«, sagte der Fremde, der nun zum ersten Mal sprach und dessen Stimme wie ein Glockenlauten klang. Sein Blick haftete immer noch auf seinem Falken; den Kopf hatte er leicht geneigt.
»Daran seid ihr schuld!« Ni’lahn zitterte erneut.
Er zuckte mit den Schultern.
»Ihr habt uns betrogen.« Tränen hingen an ihren Lidern.
»Nein, ihr habt euch selbst zerstört.« Zum ersten Mal funkelte Wut in den blauen Augen des Fremden und erinnerte an ein unerwartetes Gewitter am Sommerhimmel. Er drehte sich um und blickte den beiden geradewegs ins Gesicht; hohe Wangenknochen zeichneten sich scharf in dem weißen Gesicht ab.
Kral drückte Ni’lahns Schulter in dem Versuch, die aufwogende Wut in ihrem Innern zu dämpfen. Durch seine Berührung spürte Kral die Wahrheit in Ni’lahns Worten. Sie glaubte an ihre Beschuldigung. Doch Kral hatte den Eindruck, dass auch der Fremde nicht log. Er glaubte seiner Unschuldsbeteuerung.
Kral sprach in das gespannte Schweigen hinein. Das Unwetter, das in einem Reigen von Wind und Donner über ihnen wütete, erschien ruhig im Vergleich zu dem stillen Krieg, der hier stattfand. »Ich verstehe das Ganze nicht. Was ist zwischen euren Völkern vorgefallen?«
Ni’lahn wandte sich an Kral. »Einst, vor langer Zeit, wuchsen die Geistbäume meiner Heimat, die Koa’kona, überall in diesem Land, vom Zahngebirge über die Weiten der Westlichen Marken bis zur Großen Westsee. Die Angehörigen unseres Volks wurden als Geister von Wurzel und Lehm geachtet. Und wir teilten unsere Gaben großzügig.«
Der Fremde schnaubte. »Ihr habt geherrscht, als ob alle anderen Gattungen im Land lediglich Werkzeuge wären, die dem Wachstum eurer wertvollen Bäume dienen sollten. Eure Herrschaft war Tyrannei.«
»Lügen!«
»Anfangs erkannten nicht einmal wir, wie widernatürlich eure Ausbreitung über das ganze Land war. Wir haben euch geholfen, indem wir unsere Gabe des Winds und Lichts benutzt haben, um das Wachstum eurer Bäume zu fördern. Doch dann spürten wir allmählich die Verderbnis, die dieser unaufhörliche Vormarsch eures Volkes im Land bewirkte: Sümpfe trockneten aus, Flüsse veränderten ihren Lauf, Berge stürzten ein. Die Vielfalt, die die Schönheit des Lebens ausmachte, wurde durch das zielgerichtete Streben eures Volkes zerstört. Deshalb hielten wir unsere Gaben zurück und versuchten, vernünftig mit euren damaligen Ältesten zu sprechen. Doch wir wurden geschmäht und von unserem Heimatboden vertrieben.«
»Aber erst nachdem ihr uns mit einem Fluch belegt habt. Ihr habt eure Winde mit dem Samen der Fäule versehen und das Verfaulen von Wurzel und Blatt auf uns herabbeschworen. Unsere Bäume verwelkten und starben überall im Land, bis nur noch ein kleiner Hain, geschützt durch die neue Magik der menschlichen Rasse, die Ausrottung überlebte. Ihr habt uns zerstört.«
»Niemals! Wir haben das Leben als wertvolles Gut betrachtet, auch das eure. Nicht wir waren es, die den Fluch und die Fäule über eure Bäume gebracht haben, sondern das Land an sich. Die Natur hat sich gegen eure Ausbreitung gewehrt, um sich ihre Vielfalt zu bewahren. Ihr seid vom Land selbst niedergeworfen worden. Gebt nicht uns die Schuld.«
Kral sah, dass sich Ni’lahns Augen weiteten; ein Kampf von Vernunft und Wut sprach aus ihrem Blick. »Du lügst«, sagte sie, doch diesmal schwang in ihrer Stimme ein leiser Anklang von Zweifel mit. Sie wandte sich an Kral. »Er lügt doch, oder?«
Kral schüttelte den Kopf. »Ich spüre nichts als Wahrheit, doch nur was den eigenen Glauben an seine Worte angeht. Er glaubt, was er sagt. Das heißt nicht, dass das, was er glaubt, die Wahrheit ist.«
Ni’lahn hob die Fäuste zu den Schläfen, als ob sie die Zweifel, die dort nun Wurzeln geschlagen hatten, zerschmettern wolle. »Warum? Warum sind sie dann zurückgekommen?«
»Als wir verbannt wurden, wurde dieses Land von euren Vorfahren mit elementaren Sperren versehen, um uns von dieser Gegend fern zu halten. Mit dem Tod des letzten Baums verblasste die Wirkung der Sperren, und die Pfade hierher öffneten sich uns wieder. Deshalb wurde ich ausgeschickt.«
»Zu welchem Zweck?« fragte Kral.
»Um wiederzugewinnen, was wir verloren, was wir zwangsweise zurückgelassen hatten.«
»Und was war das?« fragte Ni’lahn. »Wir haben nichts behalten, was euch gehört.«
»O doch, das habt ihr. Ihr habt es in diesem Tal versteckt, das immer noch den Namen trägt, den wir ihm vor langer
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