Alasea 01 - Das Buch des Feuers
Stufen führten von diesem Sims weiter in den Spalt hinein. Ganz am Rand des Laternenscheins war ein Kobold zu sehen, der die Stufen hinuntersprang. Bald war er aus der Reichweite des Lichts entschwunden.
»Wir müssen diesen kleinen Miesling fangen.« Er’ril erhob sich und hob sein Schwert auf.
»Warum? Lass ihn laufen, Er’ril, und bring Elena in Sicherheit.«
Er’ril schob sein Schwert schwungvoll in die Scheide. »Wenn wir die geringste Aussicht haben wollen, A’loatal zu erreichen und in den Besitz des Buches des Blutes zu gelangen, brauchen wir den Gegenstand, den der Kobold in Händen hält. Es ist der Schlüssel, um den Weg zur verlorenen Stadt zu entriegeln. Ohne ihn sind die alten Zauberbanne unüberwindbar, die um A’loatal gewoben sind. Ich muss den Schlüssel unbedingt wiedererlangen.«
Bol runzelte die Stirn, als Er’rils Worte ihm ins Bewusstsein drangen. »Wie haben sie ihn gefunden? Und warum haben sie ihn uns gezeigt und sind dann weggelaufen?«
»Sie rechnen damit, dass wir sie jetzt verfolgen.«
Elena trat näher, um in den Abgrund zu spähen. »Wohin verfolgen?«
Er’ril deutete mit der Hand. »Da hinunter.«
Kral sprang mit einem Satz Ni’lahn hinterher. Was hatte bei dieser sonst so ruhigen Frau eine solche Wut ausgelöst? Regen prasselte auf die kleine Lichtung zwischen den Bäumen. Der einsame Bewohner, ein Mann so groß wie Kral, doch so dünn wie ein windgepeitschter Baumsprössling, blickte mit einem schwachen Kräuseln der Lippen in Ni’lahns Richtung, als ob er allenfalls ein wenig befremdet sei, dass sich diese Frau mit erhobenem Dolch auf ihn stürzte. Sein Haar, das ihm, zu einem langen Zopf geflochten, über den Rücken fiel, war von silbernen Strähnen durchzogen, jedoch sicher nicht aufgrund vorgerückten Alters, denn die glatte Haut des Gesichts wirkte jung. Die blauen Augen jedoch, die sich nur kurz auf Kral richteten, verrieten, dass die Zeit die Ängste, aber auch das Erstaunen der Jugend längst weggewischt hatte. Die Augen wirkten gelangweilt.
Das einzige Licht strahlte in Wogen von einem Vogel ab, einem Falken, der ein tiefes azurblaues Leuchten verströmte. Der Vogel, der auf dem Handgelenk des großen Mannes hockte, antwortete stimmhafter als der Fremde, der ihn trug. Er schrie Ni’lahn mit scharf gewetztem Schnabel an und ahmte damit deren Zornesausbruch nach.
Ein Regenschwall stach Kral in die Augen. Er blinzelte. In diesem Bruchteil eines Herzschlags verschwand der Vogel vom Handgelenk des Fremden. In einem Lichtstreifen, ähnlich den Strahlen, die zwischen Wolkenfetzen hindurchfallen, stieß der Vogel auf Ni’lahn hinab und schlug ihr den Dolch aus der Hand. Bevor sie in ihrem Schreck auch nur reagieren konnte, war der Falke zu seinem Platz zurückgekehrt.
Ni’lahn stand da und rang nach Luft; Strähnen des feinen Haars hingen ihr ins Gesicht. »Dies ist nicht euer Land!« schrie sie so laut, dass sie den Donner übertönte. »Euresgleichen gehört nicht hierher.«
Inzwischen war Kral zu ihr getreten und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ohne genau zu wissen, wer dieser Mann war, aber Ni’lahns Instinkt vertrauend, stellte er sich dicht neben seine Gefährtin, um sie zu unterstützen. Er spürte, wie sie unter seiner Handfläche zitterte, als ob die Gefühle in ihrem Innern brodelten und überzuschäumen drohten. »Wer ist dieser Mann? Kennst du ihn?«
Ni’lahns Zittern ließ ein wenig nach, als sie sprach. »Nein, ihn kenne ich nicht. Aber ich kenne sein Volk - die Elv’en.« Das letzte Wort spuckte sie dem Fremden förmlich entgegen.
Der Fremde blieb ruhig, als ob ihn das alles nichts angehe, als ob er ihre Sprache nicht beherrsche. Kral straffte sich, als der Elv’e sich plötzlich bewegte, doch dieser hatte lediglich einen langen Finger ausgestreckt, um das Gefieder des Falken zu streicheln. Das beruhigte den Vogel anscheinend, und er entspannte sich; seine Haltung wirkte lockerer.
»Von diesem Stamm habe ich noch nie etwas gehört«, sagte Kral, und aus irgendeinem Grund flüsterte er die Worte.
»Das kannst du auch gar nicht. Schon bevor die menschliche Rasse in diesen Gefilden auftauchte, waren die Elv’en ein Mythos, lange verschlossen im Dunst der Großen Westsee.«
»Wieso kennst du sie dann?«
»Bäume haben ein weit reichendes Gedächtnis. Unsere ältesten Wurzeln waren noch jung, als die Elv’en unter den Zweigen der Westlichen Marken wandelten. Die hohlen Bäume sangen ihre Geschichten: Lieder vom Krieg… und
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