Alasea 01 - Das Buch des Feuers
hatte gesehen, wie Jäger aus dem Hochland deren Felle in die Stadt gebracht hatten. Es war ein Wolf.
Er knurrte sie warnend an, kam jedoch nicht näher, offensichtlich ebenso argwöhnisch wie sie. Er wich ein paar Schritte zurück, wobei er auf dem rechten Vorderlauf hinkte. Die Reste eines Verbands hingen an dem verletzten Glied. Er war verwundet. Sie sah, dass eines seiner Ohren zerfetzt war, ausgefranst und blutverkrustet.
Ihr fiel das Heulen wieder ein, das alle zuvor gehört hatten. Vermutlich war dies das Geschöpf, das seinen Schmerz laut hinausgeschrieen hatte.
Beide starrten sich gegenseitig lauernd an. Der Wolf hatte aufgehört zu knurren und stand jetzt einfach nur da, ein wenig wackelig auf drei Beinen. Sie betrachtete die Reste des alten Verbandes. Der Wolf konnte ihn unmöglich sich selbst angelegt haben; jemand musste ihn versorgt haben. Sie wusste, dass einige Waldbewohner Wölfe als Hilfstiere bei der Jagd benutzten. War dies ein solches Haustier?
Als ihr klar wurde, dass der Wolf nicht die Absicht hatte, ihr an die Kehle zu springen, gestattete sie sich, wieder zu atmen. Sie richtete sich auf und wollte weglaufen, doch dann hielt sie inne. Die Worte des Schwertkämpfers, sie solle sich nicht von der Angst beherrschen lassen, fielen ihr ein, und sie verharrte auf der Stelle. Vielleicht brauchte der Wolf Hilfe, genau wie ihr Onkel.
Ein weiterer Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Vielleicht vermochte sein ausgeprägter Geruchssinn sie alle von hier wegzuführen! Elena dachte an ihren kranken Onkel. Er brauchte schnelle Hilfe. Wenn sie den Wolf dazu bringen könnte…
Sie wollte es versuchen! Sie biss sich auf die Unterlippe und trat einen Schritt näher zum Bach. Mit ausgestreckten Händen, die sie zu einer Schale gewölbt hatte, schöpfte sie kaltes Wasser und hielt es dem Wolf hin. Die Augen des Wolfes verengten sich vor Argwohn.
Sie zwang ihre Arme, nicht zu zittern, während sie ihre Haltung unverdrossen beibehielt. In diesem Augenblick stieß der Falke flügelschlagend herab und landete sanft auf ihrer Schulter.
Der Wolf beäugte den Vogel, dann betrachtete er wieder das dargebotene Wasser.
Er kam einen Schritt näher.
»Komm schon«, flüsterte sie. »Hab keine Angst.«
Der Wolf tappte noch einen Schritt näher; seine Nase war jetzt so nah, dass sie seinen heißen Atem an ihrer Hand spürte. Er reckte den Kopf nach vorn. Vorsichtig schob sich die Zunge zwischen außerordentlichen langen Reißzähnen hervor, um das Wasser zu berühren. Obwohl er gierig darauf war, wandte er den Blick nicht von ihr ab. Diese gelben Augen waren eigenartig. Die Iris war senkrecht und schlitzförmig, nicht rund, eher wie bei einer Schlange als bei einem Hund.
Während sie ihn gebannt und ehrfurchtsvoll betrachtete, weiteten sich seine Augen plötzlich, und sein Blick schoss zu ihrer rechten Seite. Mit einem Knurren zog er den Hals zurück.
»Komm her, Elena! Sofort!« Sie blickte über die Schulter zurück und sah Er’ril, der hinter einem Felsbrocken hervortrat, das Schwert drohend in Richtung des zotteligen Wolfs erhoben. »Lauf, schnell, hinter mich!« Er’ril stürzte sich mit dem Schwert auf den Wolf.
Ohne nachzudenken, warf sich Elena vor die Waffe des Schwertkämpfers und schlug die Klinge mit der Handfläche zur Seite. »Nein!« Als ihre rechte Hand mit seinem Schwert in Berührung kam, zuckte ein eisiger Blitz aus ihrer Handfläche und verschlang Er’rils Schwert.
Er’ril japste nach Luft und schüttelte die eiskalte Waffe aus der Hand. Das eherne Schwert fiel mit lautem Getöse auf den Stein und zerbarst wie eine Glasvase in tausend gefrorene Scherben.
Elena merkte, dass der Schwertkämpfer sie anstarrte. Sein Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus rotwangigem Zorn und purem Schreck. »Mein Schwert!«
»Ich wollte das nicht«, sagte Elena kleinlaut und versteckte die rechte Hand hinter dem Rücken. Die Erkenntnis, dass sie soeben die einzige Waffe ihrer Reisegruppe zerstört hatte, machte sie betroffen, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Es tut mir Leid.«
Hinter sich hörte sie den Wolf knurren.
Er’ril packte das verdatterte Mädchen und schob es schwungvoll zur Seite, bereit, gegen den großen Wolf zu kämpfen. Das Tier war verletzt, deshalb konnte er es vielleicht mit einem schnellen Fußtritt oder einem Faustschlag vertreiben.
Das Knurren des Wolfs galt jedoch nicht ihnen. Er hatte ihnen vielmehr den Rücken zugekehrt und spähte zu dem dunklen Pfad hinüber, den
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