Alasea 01 - Das Buch des Feuers
Kopf. Vielleicht ist sie die Eine. In der Stimme ihrer Mutter hatte dabei eher Angst als Stolz mitgeklungen.
Elena zog die Hand zum hundertsten Mal unter der Bettdecke hervor und hielt sie hoch. In dem schwachen Licht wirkte der Fleck auf ihrer rechten Hand dunkler. Die Salbe, die ihr die Mutter auf die Arme gestrichen hatte, glitzerte im fahlen Mondschein, der durch die Vorhänge des Schlafzimmers hereinfiel. Der süße Geruch des Hexenhaselstrauchs ging von der Salbe aus. Hexenhaselstrauch. Die Luft, die sie atmete, drückte ihre Ängste aus.
Hexe.
Ihr Onkel Bol, ein nie versiegender Quell von alten Sagen und Märchen, hatte sie und ihren Bruder in ihren Schlafsäcken zum Zittern gebracht, wenn sie bei Jagdausflügen im Freien übernachteten und er sie mit Geschichten von Hexen, Og’ern und dem Feenvolk quälte - Geschöpfen sowohl des Lichts als auch der Finsternis, die der Fantasie und der Überlieferung entstammten. Sie erinnerte sich an den ernsten Zug um Onkel Bols Lippen und seine eindringlich blickenden Augen, angestrahlt vom Schein des Lagerfeuers, während er seine Geschichten vortrug. Anscheinend glaubte er selbst an seine Erzählungen, und er blinzelte dabei kein einziges Mal oder hob die Augenbrauen, um anzudeuten, dass er übertrieb. Der Ernst, mit dem er sprach, die tiefe, grollende Stimme - das war das Beunruhigendste an seinen Geschichten.
»Dies ist die wahre Geschichte unseres Landes«, pflegte er zu sagen, »eines Landes, das einst Alasea hieß. Es gab eine Zeit, da sprachen die Luft, das Land und das Meer zum Menschen. Die Tiere in der freien Natur waren den Zweibeinern ebenbürtig. Die bewaldeten Gebiete im fernen Westen - damals schon Westliche Marken genannt - brachten Geschöpfe hervor, die so ekelhaft waren, dass man bei ihrem Anblick zu Stein erstarrte, aber auch Geschöpfe von so wundervoller Art, dass man vor ihnen auf die Knie fiel, nur um sie zu berühren. Das war das Land Alasea, euer Land. Denkt immer daran, was ich euch erzähle. Es könnte euch das Leben retten.«
Und dann pflegte er bis spät in die Nacht hinein zu sprechen.
Elena bemühte sich, sich einige von Onkel Bols lustigeren Geschichten ins Gedächtnis zu rufen, um ihre Ängste zu verdrängen, ihr gepeinigtes Gehirn jedoch kehrte immer wieder zu den finsteren Geschichten zurück - zu Geschichten mit Hexen.
Elena rollte sich in ihrem schmalen Bett auf die Seite, die weiche Baumwolle rieb an ihren Beinen. Sie zog sich das Kopfkissen über den Kopf und versuchte auf diese Weise, die alten Geschichten und neuen Ängste zu verdrängen, aber es half nichts. Sie hörte trotzdem die Rufe einer Schleiereule von den Balken eines nahe gelegenen Schuppens. Sie nahm das Kissen wieder vom Gesicht und umklammerte es vor der Brust.
Die Schleiereule wiederholte ihren vorwurfsvoll klingenden Schrei, und einen Herzschlag später war das Schlagen schwerer Flügel vor ihrem Fenster zu hören, als die Eule ihren nächtlichen Raubzug begann. Mit dem Spitznamen Nadelschwanz versehen, verdiente sich die Eule ihre Logis dadurch, dass sie Mäuse und Ratten aus den Kornspeichern fern hielt. Nadelschwanz war beinahe so alt wie Elena; sie hauste zwischen den Balken der Scheune, seit Elena denken konnte, und begab sich jeden Abend zur selben Zeit auf die Jagd.
Obwohl der Vogel immer noch jagte, hatte das Alter das Sehvermögen des bedauernswerten Geschöpfs geschwächt. Um das Wohlergehen des Vogels besorgt, brachte Elena seit beinahe einem Jahr heimlich Küchenreste zu der alten Eule hinaus.
Elena lauschte, während Nadelschwanz an ihrem Fenster vorbeiflog; dieses vertraute Ritual spendete ihr etwas Trost. Sie stieß einen rasselnden Seufzer aus, um die Spannung in ihrem Körper zu lösen. Hier war sie zu Hause, hier war sie umgeben von einer Familie, die sie liebte. Morgen früh würde die Sonne scheinen, und genau wie bei Nadelschwanz würde ihr Alltag wieder beginnen. Alle diese absonderlichen Ereignisse würden allmählich in Vergessenheit geraten oder eine natürliche Erklärung finden. Sie schloss die Augen, da sie nun wusste, dass Schlaf an diesem Abend doch noch möglich war.
Als sie gerade im Begriff war, wegzudämmern, fing Nadelschwanz an zu schreien.
Elena richtete sich mit einem Ruck im Bett auf. Nadelschwanz schrie weiter. Es war kein herausfordernder Jagdschrei oder eine Warnung an mögliche Eindringlinge in ihr Revier, es war ein Heulen voller Qual und Angst. Elena rannte zum Fenster und zog die Vorhänge weit auf.
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