Alasea 01 - Das Buch des Feuers
Schweigen. Er hatte den Geruch von Tol’chuks Last erkannt.
Fen’chuas Vater kannte seinen Sohn.
Tol’chuk wäre beinahe stehen geblieben. Wie konnte er seine Schuld eingestehen? Seine Kiefermuskeln schmerzten, so sehr presste er die Zähne zusammen. Er hielt die Augen starr auf das Loch in der Felswand gerichtet und setzte seinen Marsch fort.
Fen’chuas Vater hüpfte ihm entgegen, seine dicken Hinterbeine hämmerten auf die steinige Böschung. Er hielt schlitternd inne, überschüttete Tol’chuk mit einem Regen losen Gerölls und streckte die freie Hand aus, um den schlaffen Arm seines Sohns, der über den Boden schleifte, zu berühren. »Fen’chua?«
Tol’chuk beachtete ihn nicht, so wie es bei seinem Volk der Brauch war. Es gehörte sich nicht, Trauernde anzusehen. Er setzte seinen Weg zu der gähnenden Öffnung fort. Doch Tol’chuks Schweigen reichte für den Vater als Antwort aus. Sein Sohn war nicht nur verletzt - Fen’chua war tot. Hinter sich hörte Tol’chuk ein herzzerreißendes Geheul aus der Kehle des Vaters. Er sah, wie die anderen Mitglieder seines Stammes dem trauernden Vater den Rücken zukehrten.
Nun sowohl vor Erschöpfung als auch aus Angst stolpernd, durchschritt Tol’chuk die sich teilende Menge der Og’er. Niemand berührte ihn, niemand stellte sich ihm in den Weg: Lasst den Tod schnell vorbeiziehen. Er trug seine Last durch den Eingang in die Dunkelheit der Höhlen.
Die Felskuppel des großen Gemeinschaftsraums spannte sich hoch über den vereinzelten Herdfeuern. Tropfsteinfinger deuteten anklagend von der Decke auf ihn herab. Mit gesenktem Kopf schritt er durch den Kochbereich des Höhlendorfes. Ein paar Frauen standen gebückt an den Feuern; in ihren großen runden Augen spiegelten sich die zuckenden Flammen ihrer Herdfeuer.
Er durchschritt die Wohnbereiche der verschiedenen Familien. Kleinere Eingänge zweigten vom Gemeinschaftsraum ab in die Privatgehege jeder Familie. Männer des Stammes streckten bei seinem Vorbeigehen argwöhnisch die Köpfe heraus, aus Angst, jemand könnte die Absicht haben, ihre Frauen zu stehlen. Doch als sie sahen, was er trug, verschwanden sie wieder im Innern, voller Angst, der Tod könne in ihr Gehege springen.
Als er an der Öffnung zur Höhle seiner eigenen Familie vorbeikam, spähte kein Og’er heraus. Er war der Letzte seiner Sippe. In seinem Zuhause hallte das Echo der Stille, seit sein Vater vor vier Wintern zu den Geistern gegangen war.
Tol’chuk achtete nicht auf den vertrauten Geruch seines Zuhauses. Er wusste, wohin er zu gehen hatte, bevor sein Pflichtgefühl Ruhe geben würde - zu der Höhle der Geister.
Er setzte seinen Weg zum tiefsten und schwärzesten Teil der Höhlen fort. Hier durchteilte eine schlitzschmale Öffnung die hintere Wand vom Boden bis zur Decke. Zum ersten Mal während seines Marsches blieb er stehen, wie gelähmt beim Anblick dieser Öffnung. Das letzte Mal war er diesem dunklen Pfad anlässlich des Todes seines Vaters nahe gekommen, nachdem dieser in einer Schlacht gegen den Stamm der Ku’ukla gefallen war. Tol’chuk war damals zu jung gewesen, um mit den Kriegern zu ziehen. Als sie zurückgekommen waren, hatte ihm niemand erzählt, sein Vater sei im Kampf umgekommen.
Er hatte Knickern gespielt, mit einem Kind, das noch zu klein war, um ihn zu fürchten oder zu verachten, als der von einem Speer durchbohrte Körper seines Vaters an ihm vorbeigetragen wurde. Er hatte wie gelähmt dagestanden, eine Murmel in der Hand, während sie das letzte Mitglied seiner Familie in den schwarzen Spalt gehievt und auf die Reise zu der dahinter liegenden Höhle der Geister geschickt hatten.
Jetzt musste Tol’chuk diesen Weg gehen.
Bevor seine Beine vor lauter Angst Wurzeln schlagen und ihn an der Stelle festhalten würden, zog er seine Last näher an die Brust und zwängte sich auf dem schwarzen Pfad weiter, bis in dem Gang vor ihm ein schwacher blauer Schimmer hinter einer Biegung hervorleuchtete. Er hatte das Gefühl, als sauge das Licht ihm die Kraft aus Beinen und Armen. Sein Entschluss geriet ins Wanken. Sein Körper bebte.
Dann flüsterte ihm eine Stimme von vorn zu: »Komm! Wir warten.«
Tol’chuk stolperte im Gehen. Es war die Stimme der Triade. Er hatte gehofft, den Leichnam in der Kammer der Geister niederlegen und davonhuschen zu können, um seine abscheuliche Tat dem Stamm zu gestehen. Die Triade bekam man selten zu Gesicht. Die drei Greise, blind vor Alter, hausten tief innen im Herzen des Berges. Nur
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