Alasea 02 - Das Buch des Sturms
eine verschimmelte Eichel aus dem toten Wald; eine gerissene Saite von Ni’lahns Laute; ein flacher Windstein von Merik, den er ihm zum Dank dafür, dass er ihm das Leben gerettet hatte, geschenkt hatte. Endlich fand er, wonach er suchte: ein kleines Ledersäckchen im hintersten Winkel seines Gepäcks.
Seine Hand legte sich um den Beutel.
Er hatte ihn nicht verloren!
Er hielt das wertvolle Stück eine Zeit lang einfach nur fest, da er es nicht wagte, es zu öffnen, um sich seines Inhalts zu vergewissern. Er durfte es nicht riskieren, dass jemand ihn sah. Er gestattete sich ein kleines Lächeln in der Dunkelheit.
Das lange Warten war nun vorbei. Endlich war die Zeit zum Handeln gekommen.
Zwar wusste er nicht, in welcher Weise die anderen Stücke seiner Sammlung ihm jemals nützlich sein könnten, aber hier war etwas, das sich bestimmt als unbezahlbar erweisen würde. Nachdem sich ein Sucher hier in Schattenbach aufhielt, jemand, der dem Herrn dieses Landes nahe stand, witterte Mogwied eine seltene Gelegenheit. Wenn er diesen Sucher zu Elena führen könnte, damit die Hexe dem Herrn der Dunklen Mächte übergeben würde, solange ihre Magik noch durch die Ranken erstickt war, dann würde dieser König der schwarzen Magik als Belohnung vielleicht den Fluch aufheben, der auf Mogwieds Körper lastete, und seinen gefangenen Geist befreien, sodass er sich wieder verwandeln könnte, seinem si’luranischen Erbe gemäß, und sich endlich seines Zwillingsbruders entledigen könnte!
Für einen kurzen Augenblick dachte er an Ferndal. Er erinnerte sich an das Lob seines Bruders für seine Entscheidung zu bleiben. Ein Anflug von Scham wollte sich in seinem Herzen ausbreiten, aber er stählte seinen Willen. Ferndal war ein Narr. Die Zeit wurde allmählich knapp. Wenn sie nicht bald einen Weg fänden, um ihre Körper von dem Fluch zu befreien, würden sie in weniger als vier Monaten ihre gegenwärtigen Erscheinungsformen für immer behalten.
Mogwied blickte an seiner matten, fahlen Gestalt hinab. Das durfte nicht geschehen!
Er ließ den Beutel wieder in seine Tasche fallen. Er musste in den nächsten Tagen sehr tapfer sein. Er musste diesen Sucher finden, der sich hinter den Rattendämonen verbarg, und ihm anbieten, was er in dem Beutel hatte: das Mäppchen mit Elenas abgeschnittenem Haar.
18
Vom Ende des längsten Stegs blickte Elena auf den Fluss. Der Morgen war zu strahlend für einen so düsteren Abschied, eine Verhöhnung der schweren Herzen, die am Hafen von Schattenbach versammelt waren.
Der nächtliche Sturm hatte den Frühnebel weggeweht, und die Sonne funkelte auf der weiten Fläche des Flusses, der sich zum Sonnenaufgang hin wand. Auf der anderen Flussseite erhoben sich zwei alabasterweiße Kraniche in die Luft; die Spitzen ihrer ausladenden Flügel streiften das Wasser, da sie niedrig über den trägen Strom flogen. Hohe Schilfhalme schwankten in der sanften Brise, die von der fernen Küste her wehte. Elena roch sogar einen Hauch von Meersalz in der frischen Morgenluft. Sie zog den Umhang enger um sich. Der Morgen hatte noch ein wenig von der nächtlichen Kühle, doch der klare Himmel verhieß, dass die Sonne bald den leichten Frost in der Luft vertreiben würde.
Hinter ihr erwachte die Stadt bereits und störte den Frieden des Flussmorgens. Die barschen Rufe der Kahnführer schallten übers Wasser, während Ballen und Kisten verladen wurden. Fetzen von Arbeitsliedern stiegen wie Dampfschwaden vom Fluss auf, während Hafenarbeiter Lasten hievten und Matrosen die Kähne, die heute auf Fahrt gehen sollten, bereitmachten. Die aufgeregten Stimmen von Passagieren und deren Angehörigen tönten wie zwitschernde Vögel um Elena herum.
Aus dem Gewirr hörte Elena eine bekannte Stimme heraus.
Kral sprach mit Er’ril. »Dann werdet ihr also auf dem Fluss bis zur Küste fahren? Bis zur Stadt Landende?«
Mikela antwortete ihm und kam damit einer Antwort von Seiten des Präriemannes zuvor. »Unsere genauen Pläne behalten wir besser für uns. Wenn du in Gefangenschaft geraten solltest … nun …« Sie brauchte ihre Aussage nicht zu Ende zu führen. Wenn Kral in Gefangenschaft geriete, könnten ihre Pläne mittels Folter oder Magik aus ihm herausgequetscht werden.
Bei diesen Worten stieg plötzlich Angst in Elena hoch. Sie wandte dem glitzernden Fluss den Rücken zu und sah zu den anderen, die am Anlegesteg zusammenstanden. »Wenn sie nicht wissen, wohin wir gehen«, warf sie ein und zog damit die
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