Alasea 02 - Das Buch des Sturms
verfiel, um mit ihm Schritt zu halten. »Was ist das für ein Geräusch? Und woher kommt es?«
Moris blickte sich noch einmal zu ihm um und brachte Joach mit seiner Antwort zum Schweigen. »Das ist das Lied des Steindrachen, die Stimme Ragnar’ks.«
22
Der Ruf! Greschym erwachte zum zweiten Mal an diesem Morgen mit pochendem Herzen. Er sprang vom Bett auf. Zuvor hatte er zu hören geglaubt, dass ihm jemand den Namen Ragnar’k ins Ohr flüsterte, was ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Doch außer dem schwachsinnigen Jungen, der seinem Bann unterlag, war niemand in seiner Zelle gewesen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er sich getäuscht hatte, dass etwas, das tief in seinem Gedächtnis vergraben war, ihm einen Streich gespielt hatte; daraufhin hatte er sich wieder ins Bett gelegt. Aber nachdem seine Erinnerungen einmal erwacht waren, konnte er sie nicht so leicht wieder verdrängen.
Niemand außer den Ho’fro kannte den alten Namen des Steindrachen, doch diese Sekte hatte sich schon vor langer Zeit aufgelöst, nachdem sie aus der Bruderschaft ausgeschlossen worden war, und die ehemaligen Mitglieder waren längst tot. Auch Greschym hätte zu den Verfemten gehört, wenn ihn seine Feigheit nicht gerettet hätte. In den Gewölben tief unter der Ordensburg hatte er sich mit der Prophezeiung der Zukunft beschäftigt; zwar hatte er dies auf eine ziemlich dilettantische Weise getan, doch seine Visionen hatten ihm Angst gemacht. Er hatte sich den Stern vom Ohr gerissen und war geflohen, aus Angst, Opfer seiner eigenen Vorhersehungen zu werden. Wie sich herausstellen sollte, hatte er diese feige Handlung genau zum richtigen Zeitpunkt begangen. Einen Monat später ordnete der Ältestenrat die Verbannung der Ho’fro aus A’loatal an. Damals hatte Greschym am Hafen zugeschaut, wie seine Mitbrüder in Fesseln weggeführt wurden.
Er hatte keinen von ihnen jemals wieder gesehen.
Nein, außer ihm lebte niemand mehr, der den Namen Ragnar’k kannte.
Greschym hatte sich schließlich damit zufrieden gegeben, dass der geflüsterte Name lediglich ein Fragment eines Traumes gewesen sein konnte, und war wieder eingeschlafen. Er hatte friedlich geschlummert, bis der Ruf, der aus dem tiefsten Inneren der Ordensburg heraufschallte, ihn erneut aus dem Schlaf gerissen hatte.
Er war hochgeschreckt und hatte erwartet, dass das uralte Gefühl ebenso vergehen würde wie der gespenstische Name Ragnar’k, aber es war nicht so. Der durchdringende Ruf hatte ihn aus seinem Albtraum bis ins Wachsein verfolgt.
Es war der Ruf des Steindrachen!
Das erschütternde Heulen wurde nicht leiser, als er die Füße aus dem Bett hob und auf den abgewetzten Teppich stellte, der den kalten Steinboden bedeckte.
Irgendetwas stimmte nicht. Damals, als A’loatal versunken war, waren die unteren Bereiche der Ordensburg überflutet worden. Als er vor langer Zeit das erste Mal mit Schorkan hierher gekommen war, hatte ihn die Neugier dazu getrieben, jene Gänge aufzusuchen, die in dieses alte Labyrinth von Zellen unter der Festung führten. Was er gefunden hatte, waren nur Räume, in denen brackiges Wasser stand, und zugemauerte Durchgänge. Es gab keinen Weg in die Kammern unter der Burg. Greschym war davon ausgegangen, dass die Geheimnisse, die dort unten ruhten, für immer verloren waren.
Jedenfalls bis jetzt.
Aber was bedeutete das?
Er stand auf. Seine Beine zitterten leicht. Als er nach seinem Stock aus Poi’holz griff, spürte er die schwarze Energie, die durch das Holz seiner Krücke strömte. Das stärkte seine Zuversicht. Er wusste nicht, was hier gespielt wurde, aber er musste Schorkan unterrichten.
Während er in seine weiße Kutte schlüpfte, stellte er mit leichter Besorgnis fest, dass sein Junge noch nicht zurückgekehrt war, aber er hielt sich nicht mit diesem Gedanken auf. Es war noch früh, und in der Küche war man wahrscheinlich noch mit der Zubereitung der Morgenmahlzeiten beschäftigt. In den letzten Wochen wurde in der Küche recht langsam gearbeitet. Er stellte sich vor, wie Joach mit stumpfem Blick bei den Herden stand und darauf wartete, dass das Essen für seinen Herrn fertig würde. Wenn Joach vor ihm zurückkehren würde, würde der Junge einfach in der Zelle auf die nächsten Befehle seines Herrn warten.
Greschym ging zur Tür und verließ den Raum. Er schritt durch gewundene Flure und staubige Säle, bis er zum Turmtrakt des Prätors gelangte, dann stieg er zum Gemach seines Dunkelmagiker-Kollegen hinauf.
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