Alasea 03 - Das Buch der Rache
Haifischzahn.
Als sie näher traten, sprach er Saag wan an. »Herrin Saag wan, seid willkommen. Eure Mutter und die anderen Räte erwarten Euch bereits.«
Der Wachmann machte sich nicht einmal die Mühe, auch nur in Kasts Richtung zu blicken. Inzwischen hatte sich der Blutreiter jedoch an diese Kränkungen gewöhnt. Die Mer’ai hatten nicht viel übrig für jene, die über den Wellen lebten. Der Begriff Landbewohner galt bei diesem Volk als üble Beleidigung.
Saag wan zeigte sich jedoch über jede Beleidigung ungehalten, die gegen ihn gerichtet war. Sogar jetzt röteten sich ihre Wangen, und sie starrte den Wachmann so lange an und reagierte so lange nicht auf seinen Gruß, bis er seinen Verstoß gegen die Regeln der Höflichkeit korrigierte.
Am Ende stieß der Mer’ai die korrekte Begrüßung durch die zusammengebissenen Zähne hervor. »Und natürlich auch Ihr, Kast. Der Rat erwartet Euch.«
Saag wan nickte, ernst und kalt. »Danke, Bridlyn. Wenn du uns nun bei den Ältesten ankündigen würdest uns beide… «
Er verbeugte sich und drückte auf die Mitte des faltigen, ledrigen Gewebes, das den Weg versperrte. Statt aufzuschwingen wie eine Tür mit Scharnieren, tat sich ein Loch auf wie ein runzeliger Mund. Das dicke Gewebe ging von der Mitte aus auf und wurde an Wänden und Boden zusammengerafft.
Obwohl er bereits daran gewöhnt war, fühlte sich Kast unwohl dabei. Diesen Durchgang könnte man niemals mit einem gewöhnlichen Flur verwechseln.
Der Wachmann trat durch die ›Tür‹ und führte die beiden in den Saal dahinter. Bridlyn kündigte sie förmlich an, aber Kast war so in den Bann geschlagen beim Anblick des Raumes, dass er ihn gar nicht hörte.
Der Saal, der eigentlich verhältnismäßig klein war, wirkte riesig. Diese Täuschung wurde durch die Seitenwand bewirkt. Hier war die Haut des Leviathans so durchsichtig wie Glas. Das tiefe Blau des Ozeans schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. An dem langsam schwimmenden Riesentier glitten Schwarme von Gelbflossen und wabernde Seetangstränge vorbei. Unter ihnen war die Fels und Korallenlandschaft mit Seeanemonen geschmückt, die mit ihrem eigenen inneren Licht wie lebende Juwelen wirkten. In der Ferne entdeckte Kast sogar einige Mer’ai Patrouillen, die auf Seedrachen ritten, welche in allen möglichen Farben schillerten: Jadegrün, Alabaster, Kupfer, Gold…
Der Anblick ließ Kasts Atem stocken. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass seine Beine schon stehen geblieben waren. Erst als Saag wan seinen Ellbogen berührte und ihn einige Knochenstufen hinunterzog, fiel es ihm auf.
Als sein Blick schließlich auf den Boden des Saales fiel, verblasste die anfängliche schiere Fassungslosigkeit zu simplem Staunen. Und dann sah er sich sogar wieder in der Lage, sich auf die Unterhaltungen um ihn herum zu konzentrieren. Bridlyn stieg bereits die Stufen wieder hinauf; er grinste verächtlich über Kasts Staunen. Der Hohn des Wachmanns trug deutlich zu Kasts Ernüchterung bei. Endlich hörte er auf, sich wie ein von Ehrfurcht ergriffenes Kind zu benehmen.
Er drehte den Rücken zum Fenster und richtete den Blick in den Saal. Vor ihm an einem geschwungenen Tisch aus glatter Koralle saßen die fünf Ältesten. Saag wan stand vor dem Tisch, das Gesicht dem Rat zugewandt.
Kast erkannte Saag wans Mutter unter den Ältesten, eine majestätisch wirkende Frau mit den gleichen Gesichtszügen wie die Tochter. Aber die Wärme und das Funkeln in Saag wans Augen waren aus denen der Mutter längst gewichen. »Der Tod meines Vaters ist daran schuld«, hatte Saag wan ihm einmal erklärt. »Damals ist auch etwas in meiner Mutter gestorben.«
Auch jetzt gelang es der Tochter nicht, durch ihre Gegenwart eine familiäre Herzlichkeit in die kalten Augen der Frau zu zaubern.
Kast konnte Saag wans Schmerz an der Art erkennen, wie sie ihre Schultern hängen ließ und wie sie ihre Hände hinter dem Rücken faltete, nämlich so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die junge Mer’ai vermied es, ihre Mutter direkt anzusprechen, stattdessen wandte sie sich an den Ältesten des Rates, Meister Edyll.
»Wir kommen mit einer Bitte«, sagte sie forsch zu dem alten Mann.
»Das sehe ich, Kind«, antwortete er. Meister Edyll hatte für einen Mer’ai ein stolzes Alter erreicht. Sein Haar war zwar grau geworden, aber die scharfe Intelligenz in seinen alten Augen und der wohlmeinende Humor, der seine Lippen umspielte, ließen ihn jung erscheinen. »Doch was veranlasst dich,
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