Alasea 03 - Das Buch der Rache
und Speeren.
Pinorr winkte die Krieger zurück, denn Scheschon musste noch irgendwo in der Nähe des Drachen sein. Mit erhobenen Händen trat der Schamane vor und deutete dem Ungeheuer damit an, dass er keine bösen Absichten verfolgte. Der Drache beugte den Hals herunter, um den Schamanen zu mustern. Pinorr schenkte der Drohung in den karminroten Augen des Untiers keine Beachtung, er dachte nur an Scheschons Sicherheit. Als er nah genug herangekommen war, bemerkte er ein kleines, völlig durchnässtes Mädchen, das scheinbar bewusstlos auf dem Rücken des Drachen lag. Das nasse, grüne Haar umrahmte strähnig das Gesicht, die Haut wirkte blass und grau. Pinorr konnte zwar sehen, dass sie atmete, aber die Reiterin schien dem Tode nahe zu sein.
Was ging hier vor?
Plötzlich trat Scheschon unter dem Flügel des großen Ungetüms hervor. Der Drache fuhr zusammen, als das Kind auftauchte. Er zischte und zog den Flügel hoch.
Ulster und Jabib traten vorsichtig hinter Pinorr.
Scheschon lächelte den Drachen schief an, der hoch über ihr aufragte. Sie zeigte auf das große Ungeheuer. »Ich wähle ihn«, erklärte sie klar und deutlich mit lauter Stimme, die übers gesamte Deck zu vernehmen war. Sogar der Donner machte für einen Moment Pause.
Pinorr drehte sich zum Kielmeister um. »Das hast du doch gewollt, Ulster«, antwortete er grimmig. »Scheschon hat ihren Kämpfer gewählt.«
15
Saag wan hörte Stimmen, einen vertrauten Akzent. Kast. Sie kämpfte sich durch die schwarze Ödnis zurück in eine Welt aus kaltem Wind und Regen. Wo war sie? Sie drehte den Kopf und sah verschwommene Bilder, dunkle Gestalten, die sich um sie herum bewegten. Blitze zuckten durch die Nacht, und Donner grollte am Himmel; die Erinnerung kam zurück. Sie fuhr zusammen, als sie an das Zerren der heulenden Winde und den Flug des Drachen durch die hoch aufgetürmten schwarzen Wolken dachte, und drückte sich an ihr Reittier. Der Himmel über ihr öffnete sich mit einem Mal, und der Regen prasselte hernieder. Die Wärme des Drachen jedoch fühlte sich wie ein loderndes Feuer unter ihr an.
Leibgefährten, sandte ihr Ragnar’k. Der Hunger des Drachen verursachte der Mer’ai Schmerzen im Bauch. Sie spürte seine Gier nach dem Blut und Fleisch, dem sie sich gegenübersahen.
Dann richtete sie sich auf und löste den verkrampften Griff um die Schuppen. Der Regen prasselte stechend auf ihren nackten Rücken, und die Haut des Drachen dampfte im Regenguss und erzeugte einen dünnen, aufsteigenden Nebel. Saag wan beäugte vorsichtig ihre Umgebung. Ihre Sehkraft war so weit zurückgekehrt, dass sie erkannte, dass sie und der Drache sich auf einem Schiff befanden. Über ihnen hatte sich ein zu hastig gerefftes Segel gelöst und knallte und krachte nun im Wind.
Doch es waren die Gestalten, die um sie herum versammelt standen, denen sie ihre gesamte Aufmerksamkeit schenkte. Ein Kreis aus hart und zäh wirkenden Männern und Frauen hatte sich in sicherer Entfernung um sie herum gebildet, einige knieten am Boden, andere standen mit ihren Waffen da. Die Laternen, die von den Rahnocken und Geländern baumelten, beleuchteten die von Wind und Wetter gegerbten Gesichter. Ein besonderes Merkmal hatten die Männer alle gemein: die Tätowierung eines im Sturzflug befindlichen Meerfalken prangte auf ihren Wangen und Hälsen.
»Blutreiter«, murmelte sie. Kasts Stamm.
Ein Mann trat vor, sein blaues Gewand war völlig durchnässt und klebte an seiner großen Gestalt. Sein Haar leuchtete so weiß wie das von Meister Edyll. Mutig starrte er zu ihr hinauf. Ehrfurcht leuchtete aus seinem Blick. Er streckte die Hand aus, und unter Ragnar’ks Flügel trat ein kleines Mädchen hervor. Die Augen der Kleinen waren weit aufgerissen vor Staunen.
»Er ist groß, Papa«, sagte das Mädchen, als der Alte das Kind an sich zog und in die Arme schloss.
Der blau gewandete Mann blickte erneut zu Saag wan auf. »Du bist eine Mer’ai.«
Saag wan nickte.
Hungrig, beklagte sich Ragnar’k, beugte sich hinunter zu dem alten Mann und dem Kind und beschnüffelte sie. Nicht viel Fleisch, aber schmeckt gut.
Nein, tadelte Saag wan ihn stumm. Du wirst niemanden fressen. Nach diesen Menschen haben wir lange gesucht. Sie sind vielleicht unsere neuen Freunde.
Brauche keine neuen Freunde. Brauche vollen Bauch. Saag wan fühlte trotz dieser Worte die Ergebenheit des großen Gefährten.
Die Mer’ai räusperte sich und versuchte, den Befehlston und das Auftreten ihrer Mutter nachzuahmen.
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