Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
und dass es ihr gelungen wäre, den alten Dolch mit dem Blut der Hexe zu benetzen. Sie war noch so jung, und dennoch hing so viel von ihr ab.
Aber er wusste auch, dass in Kesla mehr steckte, als man auf den ersten Blick vermutete. Er selbst hatte sie vor zehn Jahren aufgelesen, als sie allein im Wüstensand umherirrte. Ein kleines Mädchen, völlig nackt, keine fünf Winter alt, das sich weder an seine Familie noch an seine Vergangenheit erinnerte
und doch hatte er sofort erkannt, dass sie etwas Besonderes war. Die glühende Sonne hatte ihrer Haut nichts anhaben können. Das goldene Haar war so lang, als wäre es nie geschnitten worden, und schleifte hinter ihr durch den Sand. Sie war in sein Nachtlager geschritten, als hätte die Wüste selbst sie geboren. Für ein Kind, das so allein, so völlig von aller Welt verlassen war, wirkte sie unnatürlich ruhig. Sprechen konnte sie allerdings nicht. Er hatte zunächst geglaubt, sie sei schwachen Geistes, doch sie hatte schnell gelernt: Nach dem ersten Jahr konnte sie sprechen, nach dem zweiten lesen. Auch alle anderen Aufgaben, alle Anforderungen, die man an sie stellte, hatte sie im Handumdrehen gemeistert.
Ja, diese Kesla hatte eine ganz besondere Ausstrahlung, und als es darum ging, wen man beauftragen sollte, den Nachtglasdolch in Hexenblut zu tauchen, kam sie als Einzige infrage. Belgan hätte sich immer für Kesla entschieden, auch wenn die Knochen des Schamanen einen anderen Weg gewiesen hätten. In seinen Augen war sie die größte Hoffnung der Wüste.
Hinter ihm wurde an die Tür geklopft.
Er drehte sich um. Wer mochte ihn zu dieser späten Stunde noch stören? »Herein!« rief er.
Die Tür wurde geöffnet, ein Lehrling betrat den Raum und verneigte sich. »Meister Belgan. Es tut mir Leid, dich so spät noch zu belästigen.«
»Was gibt es, Seth?«
»Ein Wanderer steht am Tor und begehrt Einlass in den Alkazar.«
»Ist er allein?«
»Ja.«
Belgan runzelte die Stirn. Nur ein Narr wanderte allein durch die Wüste. Zu zahlreich waren die Gefahren, als dass ein einziges Paar Augen sie alle erkennen konnte. Und er hatte zu so später Stunde wahrhaftig keine Lust mehr, sich mit einem Narren herumzuärgern. »Was will dieser Wanderer?«
»Deshalb bin ich hier. Er will dich sprechen. Er sagt, er komme mit einer Warnung.«
Belgan seufzte. Dann musste er der Sache wohl nachgehen. Er nahm den roten Umhang von seinem Haken und wickelte ihn um sich. »Hast du ihn eingelassen?«
»Nein, Meister. Er wartet vor dem Tor.«
Belgan nickte. Wegen der vielen Gefahren und der üblen Geschöpfe, die in der Wüste ihr Unwesen trieben, hatte er Befehl gegeben, die Tore am Abend zu schließen und erst bei Tagesanbruch wieder zu öffnen. »Bring mich zu ihm.«
Seth hielt seinem Herrn die Tür auf, dann eilte er ihm über die Treppen und durch die Sandsteinkorridore voran.
Die Festung war vor Urzeiten aus einem großen Sandsteinfelsen herausgehauen worden. Wenn man von der Wüste kam, sah man nur einen einfachen Felsturm, aber an der Nordseite führte ein natürlich entstandener, senkrechter Riss in einen Innenhof, der zum Himmel hin offen war. Um diesen Hof herum hatte man die eigentliche Burg aus dem Fels gemeißelt und mit geraden und spiralig gewundenen Türmen und mit gigantischen Skulpturen alter Könige geschmückt. So war ein Schloss in einer Sandsteinschale entstanden, der geheime Sitz, die verborgene Bastion der Meuchler Gilde.
Seth stieß die dicke Eschentür auf und wartete, bis Belgan in den gepflasterten Hof getreten war. Von hier an übernahm der Gildemeister die Führung, der Lehrling blieb ihm dicht auf den Fersen.
Der Mond stand hoch am Himmel und schien mitten ins Herz des Alkazars. Von rechts, wo sich die Stallungen für die Wüstenmalluken befanden, war leises Heulen und Schnauben zu hören. Die sonst so dickfelligen Tiere waren ungewöhnlich erregt, ja geradezu verängstigt. Sie hatten sogar den Stallmeister geweckt. Belgan sah, wie Humpf im Nachtgewand die Stalltür aufzog, um nach seinen Schützlingen zu sehen.
In diesem Augenblick kroch ein Windstoß unter den Umhang des Gildemeisters und machte ihn frösteln. Belgan zog sich den Stoff fester um die Schultern und schlug die Arme um sich. Unheimliche Vorzeichen begleiteten diese Nacht.
Seth holte ihn ein und setzte sich wieder an die Spitze. »Hier entlang, Meister Belgan.«
Auf der anderen Hofseite führte die Spalte im Sandsteinfelsen hinaus in die Wüste, doch man hatte die Öffnung von oben
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