Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
grün leuchtendem Wasser.
Ihre Zukunft lag hier.
FÜNFTES BUCH
Gebrochene Kronen
15
Mikela beobachte aufmerksam den dunklen Wald. Der Atem stand ihr in weißen Wolken vor dem Mund. Unweit von ihr trug Kral totes Holz für ein Feuer zusammen, um das Mittagsmahl zu kochen. Sogar dem großen Gebirgler zitterten die Finger, als er mit dem Stahl Funken aus dem Feuerstein schlug.
Seit sie Burg Mryl und den Nordwall verlassen hatten, war es mit jedem Schritt kälter geworden. Der Himmel war, so weit sie ihn sehen konnten, so grau wie eine Schiefertafel, und in der vergangenen Nacht waren sanfte Schneeflocken durch die grotesk verkrümmten Zweige geschwebt und hatten den ganzen Wald weiß bedeckt.
Mikela sah sich um. Normalerweise verbreitete ein verschneiter Wald eine Atmosphäre von Ruhe und Schönheit. Doch hier auf den Furchthöhen war der Anblick so entmutigend wie der zusammengekrümmte Leichnam eines Erfrorenen.
Wärme gab es nur in ihrem eigenen Lager. Ni’lahn saß auf einer knorrigen Baumwurzel und spielte leise auf ihrer Laute. Die Saiten sangen von schwirrenden Vögelchen und grünem Laub, von bunten Blumen und lauen Sommernächten. Kein Wunder, dass die Grim Geister nicht näher kamen. Es war das Lied des Wahren Tals, des verlorenen Lok’ai’hera. Wie musste es sie quälen, hier zwischen ihren alten Bäumen mit den krummen Stämmen und den gemarterten Ästen an ihre Vergangenheit erinnert zu werden. Selbst Mikela fuhr es wie ein Stich durchs Herz, als sie dem sanften Spiel der Nyphai lauschte.
Merik trat zu ihr. Er rieb sich die Hände und hauchte auf seine bloßen Finger, um sie zu wärmen. Seine Augen waren zum Himmel gerichtet. »Heute Nacht wird es wieder schneien.«
Mikela nickte. Der Elv’en Prinz hatte ein feines Gespür für das Wetter.
Er rückte näher heran und senkte die Stimme. »So kann es nicht weitergehen«, fuhr er fort. »Falls es uns überhaupt gelingt, diesen kranken Wald zu durchqueren, werden Kälte und Wind nur immer schlimmer werden. Wir brauchen wärmere Kleidung für den Weg, der noch vor uns liegt.«
»Ich weiß. Vorhin ist mir aufgefallen, wie gierig Mogwied Ferndal angesehen hat. Als wollte er seinem Bruder am liebsten den warmen Pelz abziehen.« Mikela runzelte die Stirn. Sie beide waren mit ihren dicken Umhängen und den Lederstiefeln einigermaßen gegen die Kälte geschützt, aber wenn sie den Amov Felsen und die Zitadelle des Bergvolks erreichen wollten, brauchten sie Pelze und wärmere Schlafsäcke.
»Warum konnten wir nur nicht mit der Sturmschwinge über den Wall fliegen!« murmelte Merik.
Mikela seufzte. Den Wunsch teilten sie alle. Doch als sie kurz nach der Flucht aus Burg Mryl mithilfe von Tyrus’ Silbermünze Meriks Schiff gerufen hatten, hatte Xin gemeldet, der Nordwall sei zu hoch, sie könnten ihn nicht überfliegen, und die Bresche in der Mauer würde von monströs entstellten Bäumen blockiert. Jeder Versuch, an der Stelle hindurchzukommen, sei an dem Wald gescheitert, der das Schiff mit peitschenden, kratzenden Ästen angegriffen habe, die von Geistern in den Bäumen gesteuert wurden. Die Sturmschwinge habe nicht hoch genug fliegen können, um sich gegen sie durchzusetzen, und sich daher zurückziehen müssen.
»Wir werden es schon schaffen«, ermunterte ihn Mikela.
»Hoffentlich«, antwortete Merik und schlenderte zum Lager zurück. Kral war es endlich gelungen, aus seinem Feuerstein genügend Funken zu schlagen, um das feuchte Laub in Brand zu setzen. Die winzigen Flämmchen zogen alle Blicke auf sich.
Hinter Mikela knackte leise ein Ast. Sie fuhr herum, die Schwerter in beiden Händen. Eine dunkle Gestalt kam aus dem dürren Unterholz geschlichen. Ferndal kehrte von seinem Erkundungsgang durch den Wald zurück; das Knacken war seine Art, auf sich aufmerksam zu machen. Seine bernsteingelben Augen glühten. Das Bild eines leeren Weges erschien in Mikelas Bewusstsein und sagte ihr, dass die unmittelbare Umgebung von Grim Geistern frei war.
»Ich gebe Ni’lahn Bescheid«, sagte sie. »Geh du ans Feuer, und wärme dich auf.«
Ferndal trottete mit hängender Zunge davon.
Mikela sah dem riesigen Baumwolf mit besorgtem Blick nach. Seit sie den Wald betreten hatten, waren die Bilder, die er sendete, gröber geworden, und er antwortete nur knapp und oft unverständlich. Nicht mehr lange, und er würde unwiderruflich zum Wolf. Mogwied sagte, den Zwillingen bleibe kaum noch ein Mond, dann würden sie endgültig in ihrer jetzigen Gestalt erstarren.
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