Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
hefteten sich auf den Präriemann. »Ich … ich wollte jemanden anmelden …« Er wies mit der freien Hand auf die offene Tür.
Eine Riesengestalt zwängte sich unbeholfen durch die schmale Öffnung. Der Og’er richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf. Die bernsteinfarbenen Augen mit den schlitzförmigen Pupillen wanderten über die Versammlung.
»Tol’chuk?« fragte Er’ril mit zusammengezogenen Brauen.
Der Og’er hatte sich in letzter Zeit ziemlich rar gemacht und sich in den unbewohnten Teilen der Burg verkrochen. Jetzt war ihm deutlich anzumerken, dass ihn etwas bedrückte. Tiefe Verzweiflung sprach aus den groben Zügen.
»Was hast du?« fragte Elena und trat neben Er’ril. »Was ist passiert?«
Der Og’er antwortete nicht, er trat nur näher und hob die Krallenfaust mit dem kostbaren roten Stein, dem Herzen seines Volkes. Die Facetten des Juwels blitzten im Fackelschein, aber das innere Feuer war erloschen. »Sie sind fort«, grollte Tol’chuk mühsam in der allgemeinen Sprache Alaseas. Eine dicke Träne rollte ihm über die Wange. »Alle Geister meines Volkes. Der Vernichter hat sie verschlungen. Das Herz ist tot.«
Elena ging auf den Hünen zu und berührte mit den behandschuhten Fingern seine Hand. »Oh, Tol’chuk. Das tut mir Leid.«
Auch Er’ril wollte ihn trösten, aber Tol’chuk wich zurück, wandte sich ab und ließ die Schultern hängen. »Ich verdiene euren Zuspruch nicht. Ich habe mein Volk enttäuscht.« Er schien sich förmlich in sich selbst verkriechen zu wollen. »Und nun muss ich auch euch, meine Freunde und Brüder, enttäuschen.«
»Was redest du da für einen Unsinn?« polterte Er’ril und legte dem Og’er die Hand auf die mächtige Schulter.
Tol’chuk zuckte zurück. »Ich muss euch verlassen.«
»Was?« keuchte Elena. »Was soll das heißen?«
Er’ril konnte den Schrecken der jungen Frau gut nachempfinden. Der Og’er war von Anfang an bei ihnen gewesen.
»Der Schatten meines Vaters ist mir erschienen«, murmelte Tol’chuk. »Er hat mir einen letzten Auftrag erteilt: Ich soll das Herz wieder zum Leben erwecken.«
»Und wie?« fragte Er’ril leise.
Tol’chuk wollte sich noch immer nicht umdrehen. »Ich muss den Herzstein dahin zurückbringen, wo er gebrochen wurde.«
»In die Zahnberge?« fragte Er’ril.
»Nein.« Tol’chuk drehte sich um und sah ihn an. Sein Gesicht war wie versteinert vor Schmerz. »Nach Gul’gotha.«
Elena wich einen Schritt zurück. Den anderen hatte es die Sprache verschlagen.
Tol’chuks Schultern sanken noch weiter nach vorn. »Ich kann mich dem Wunsch meines Vaters nicht verweigern.«
Er’ril sah in die Runde. Zuerst wurde Merik von Ni’lahn gerufen, und jetzt bekam Tol’chuk eine Botschaft vom Geist seines Vaters. Beide Gefährten wurden von Toten weggelockt. Eine merkwürdige Übereinstimmung, die den Präriemann nachdenklich machte.
Meister Edyll war noch etwas aufgefallen. »Der Og’er wird in ein anderes Land geschickt. Hält das außer mir noch jemand für bedeutsam?«
»Inwiefern?« fragte Elena.
»Wir suchen das Versteck des vierten Tores einer Statue, die aussieht wie ein Og’er mit dem Schwanz eines Skorpions. Und jetzt erhält ein Og’er den Auftrag, den Großen Ozean zu überqueren und in das Land Gul’gotha zu reisen. Ob dies womöglich das Zeichen ist, nach dem wir gesucht hatten?«
»Ich weiß nichts von irgendwelchen Zeichen«, antwortete Tol’chuk. »Ich folge nur dem Befehl meines Vaters und suche einen Weg, um dem Vernichter die Seelen meines Volkes zu entreißen.«
»Und wer ist dieser Vernichter?« fragte Meister Edyll und hob die Hand, bevor Tol’chuk antworten konnte. »Ich habe deine Geschichte gehört, Meister Tol’chuk. Aber ich möchte noch genauer wissen, was für eine Art von Wesen sich denn nun eigentlich im Inneren dieses Herzsteins verbirgt.«
Tol’chuk hielt den Stein gegen das Licht. »Ich weiß es nicht. Er hat sich verändert. Er ist sehr gewachsen, nachdem er die letzten Seelen verschlungen hatte.«
»Kann ich ihn sehen?« fragte Meister Edyll.
Tol’chuk sah erst Er’ril und dann Elena an. Elena nickte. Auch sie war neugierig.
Nur zögernd überließ der Og’er Meister Edyll seinen Herzstein. Der Älteste brauchte beide Hände, um den Kristall zu halten. Er trug ihn zu einer der Wandfackeln, hob ihn mühsam hoch, hielt ihn vor die Flamme und spähte ins Innere. Im Schein des Feuers leuchtete das Herz hell auf. Der alte Mer’ai ging noch näher heran, dann
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