Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
Vergrößerungskristall und deutete auf das Ei. »Hier. Du musst ganz genau hinsehen.«
Sie hielt sich den Kristall ans Auge und beugte sich über den Schwarzstein. »Wonach soll ich suchen?«
Bruder Ryn fuhr mit dem Finger eine Silberader nach, ohne dabei den Stein zu berühren das hatte bisher keiner gewagt. Bei allen bisherigen Untersuchungen hatten sie das Ding mit einer Kupferzange angefasst, die zum Kaminbesteck gehörte. »Achte auf diese silbrige Linie hier.«
»Und?« Saag wan verstand nicht, was daran so wichtig sein sollte. Der Schwarzstein war kreuz und quer von Silberadern durchzogen, sie hoben sich von der glatten Oberfläche ab wie Blitze vor dem Nachthimmel. »Sieht nicht anders aus als alle anderen.«
»Hmm … du musst noch genauer hinsehen, Kind. Vielleicht besser von der Seite.«
Sie bückte sich ein wenig und betrachtete das Ei aus einem anderen Blickwinkel. Da stockte ihr der Atem: Die Ader schloss nicht wie alle anderen mit der Oberfläche bündig ab. Dieser Silberfaden war ein klein wenig tiefer eingebettet. »Was ist das?«
Er beugte sich zu ihr. »Siehst du, wie die Linie um das ganze Ei herumläuft? Sie wird immer wieder von anderen Adern gekreuzt, um das Auge zu verwirren. Aber die Hauptlinie führt im Zickzack um das ganze Ei herum sie bildet einen geschlossenen Kreis.«
Sie folgte seinem Finger. Er hatte Recht! »Und was hat das zu bedeuten?«
Er richtete sich auf und nahm ihr die Lupe wieder ab. »Ich vermute, wir haben die Vorrichtung zum Öffnen des Eis vor uns den sprichwörtlichen Sprung in der Schale.«
Saag wan fuhr zurück. »Es lässt sich öffnen?« Sie wollte gar nicht daran denken, was sich im Inneren verbergen, welches grauenvolle Unheil da heranreifen mochte. Sie wünschte, Kast wäre bei ihr. Aber der war gleich wieder gegangen, um zusammen mit Hant und dem Großkielmeister den Angriff auf Schwarzhall zu planen.
Bruder Ryn sah zu dem Logbuch vor dem Kamin hinüber. »Wenn wir wenigstens mehr Informationen über das verfluchte Ding hätten.«
Sie nickte. »Ich wüsste zu gern, wie man es zerstören kann.«
Der alte Gelehrte wandte sich wieder dem Ei zu. »Zumindest sollte man abschätzen können, wie gefährlich es ist.«
»Dazu müsste man es öffnen und das können wir nicht wagen.«
Bruder Ryn sah zu ihr auf. Sie las die brennende Neugier in seinem Blick. »Muss man seinen Feind nicht kennen, bevor man ihn bekämpfen kann?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. Von diesen schrecklichen Gebilden lagen noch hundert weitere vor A’loatal auf dem Meeresgrund. Bevor sie daran gingen, das Wrack weiter hinaus zu schleppen, mussten sie wissen, was sie damit riskierten. »Aber wir haben doch keine Ahnung, womit der Stein sich öffnen lässt.«
Bruder Ryn überlegte laut. »Der Stein nährt sich von Blut. Deshalb muss Blut der Schlüssel sein.«
Saag wan hielt den Blick fest auf das schwarze Ei gerichtet. Sie spürte, dass hier die Lösung lag. »Aber was setzt man damit frei?«
Greschym stand dicht am Wasser unter einem Ahornbaum. Vor ihm erstreckte sich der riesige Mondsee bis zum Horizont und warf das Bild des aufgehenden Vollmondes zurück wie ein schwarzer Spiegel. Schon säumten hunderte von Festgästen die Ufer und warteten darauf, dass der Mond den höchsten Punkt seiner Bahn erreichte und sein Spiegelbild genau in der Seemitte stand.
Das Fest des Ersten Mondes wurde hier gefeiert, solange Greschym denken konnte. Der Brauch reichte zurück bis in Alaseas früheste Vergangenheit. Wie oder womit er angefangen hatte, wusste niemand mehr mit Sicherheit zu sagen. Um seinen Ursprung rankten sich unzählige Geschichten, nur eine Aussage fand sich in allen wieder: In der Nacht des ersten Sommervollmonds erschien im Wasser des Sees das Gesicht der Mutter und erfüllte allen Badenden, die reinen Herzens waren, einen Wunsch.
Und das war der Haken an der Sache, dachte Greschym verdrossen, man musste reinen Herzens sein.
In jedem Jahr fielen Dutzende und Aberdutzende von Wallfahrern auf die Knie, schlugen sich mit den Fäusten an die Brust und beteuerten, ihr Wunsch sei in Erfüllung gegangen. Greschym vermutete, dass sie samt und sonders logen oder sich und anderen etwas vormachten. Wer würde schon zugeben, dass sein Wunsch nicht erfüllt worden war, wenn er damit Gefahr lief, Zweifel an seiner Herzensreinheit zu wecken? Und so kamen die Menschen mit ihren schmerzenden Gelenken, ihren kranken Ehegatten, ihren heimlichen Liebschaften Jahr für Jahr wieder in Scharen
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